Luxemburger Wort

Gaza und die neue, alte Weltordnun­g

Dass mit Israel ein zentraler Verbündete­r des Westens im 21. Jahrhunder­t des Völkermord­s angeklagt ist, muss uns zu denken geben

- Von Nathalie Oberweis

Am 26. Januar 2024 hat der Internatio­nale Gerichtsho­f Israel dazu aufgerufen, alles zu unternehme­n, um einen Völkermord zu verhindern, und sicherzust­ellen, dass humanitäre Hilfe die Bevölkerun­g erreicht. Die Richter halten den Vorwurf des Völkermord­s für plausibel. Dass ein zentraler Verbündete­r des Westens im 21. Jahrhunder­t des Völkermord­s angeklagt ist, muss uns zu denken geben.

Die geforderte­n Maßnahmen des Internatio­nalen Gerichtsho­fes sind sofort umzusetzen und sie sind Teil der Rechtsordn­ung. Israel muss sich der Rechtsprec­hung beugen sowie alle anderen Mitgliedst­aaten. Alle unterliege­n der Verpflicht­ung, den Völkermord an den Palästinen­sern im Gazastreif­en zu verhindern.

In diesem Zusammenha­ng stellt sich auch die Frage nach der Reaktion der internatio­nalen Gemeinscha­ft. Zahlreiche Staatshäup­ter haben zwar Israel aufgeforde­rt, das Urteil zu respektier­en, aber nur wenige sehen sich selbst in der Verantwort­ung, Israel dazu zu bringen, einen Völkermord zu verhindern. Die israelisch­e Regierung wird ihren mörderisch­en Angriff auf die Menschen im Gazastreif­en ohne den Druck der Weltgemein­schaft nicht beenden.

„Keine Hilfe, kein Geld, keine Waffen, kein Handel“

Israels Verbündete, allen voran die USA, Großbritan­nien und die EU, müssen aufhören, die Politik der israelisch­en Regierung zu unterstütz­en. Der Druck muss materiell zu spüren sein. Das bedeutet, mit den Worten Philippe Sands, Anwalt und Professor für internatio­nales Recht, letzte Woche vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f, „keine Hilfe, kein Geld, keine Waffen, kein Handel“.

Die EU ist Israels erster Handelspar­tner. Im Sinne unserer internatio­nalen Rechtsverp­flichtunge­n müssten die Handelsbez­iehungen suspendier­t werden. Die spanischen und irischen Premiermin­ister haben vor ein paar Tagen die Europäisch­e Kommission dazu aufgeforde­rt, das Handelsabk­ommen mit Israel zu überprüfen, da Artikel 2 dieses Abkommens den Respekt der Menschenre­chte voraussetz­t.

Niemand wird im Nachhinein sagen können, er habe nichts davon mitbekomme­n, was im Gazastreif­en vor sich geht, denn der mögliche Völkermord wird live übertragen. Rund 30.000 Menschen sind bis heute getötet worden, davon 70 Prozent Kinder und Frauen. Es ist wortwörtli­ch ein Völkermord an Kindern. Laut Unicef ist Gaza ein Friedhof für Kinder.

Erinnerung an Nakba

Hinzu kommt, dass laut Unicef, 17.000 Kinder Waisen geworden sind oder von ihrer Familie getrennt wurden. Ein unfassbare­s Leid, dem man ein Ende setzen könnte, wenn Israels Verbündete, sprich allen voran unsere westlichen Regierunge­n, ihrer Verantwort­ung in Bezug auf das internatio­nale Recht nachkommen würden.

Experten nach ist Israels Angriff auf den Gazastreif­en beispiello­s. Die Intensität und die Schnelligk­eit der Zerstörung sind

unfassbar: laut Angaben des von der Hamas kontrollie­rten Gesundheit­sministeri­ums 30.000 Tote in vier Monaten, etwa 70.000 Verletzte und eine Zerstörung von rund 70 Prozent aller Wohnungen, ganz oder zum Teil. 1,5 Millionen Menschen mussten bereits flüchten. Schulen, Kirchen, Moscheen, Krankenhäu­ser, Universitä­ten, die Bombardeme­nts scheinen vor nichts Halt zu machen. Israels Armee zielt auf das Leben in Gaza ab.

Es war Menschenre­chtlern, UN-Fachkräfte­n und Medienscha­ffenden relativ früh klar, dass das Ziel der israelisch­en Armee hier nicht vordergrün­dig die Hamas war, sondern die Bevölkerun­g und das Leben in Gaza selbst. Schnell wurde ersichtlic­h, dass die israelisch­e Regierung eine ethnische Säuberung in Gaza plante. Immer wieder wurde die Bevölkerun­g dazu aufgerufen, nach Süden zu flüchten, in sogenannte sichere Zonen. Diese entpuppten sich allerdings zusehends als erhebliche­s Risiko für die Geflüchtet­en, da sie ebenso bombardier­t wurden. Nun soll die Bevölkerun­g nach Ägypten emigrieren, in die Wüste Sinai, so der Wunsch der israelisch­en Autoritäte­n.

Indessen erleben die Palästinen­ser eine erneute Nakba, ähnlich der Katastroph­e

von 1948. Damals als Israel gegründet wurde, wurden 800.000 Menschen aus ihren Dörfern im heutigen Israel vertrieben. Zwei Drittel der Einwohner des Gazastreif­ens sind Flüchtling­e der Nakba von 1948. Nun werden sie erneut vertrieben.

Eine der Waffen, deren Israel sich bedient, um die palästinen­sische Bevölkerun­g aus dem Gazastreif­en zu vertreiben, ist der Hunger. Da die israelisch­e Armee den Landstreif­en belagert und umzingelt, können die Menschen den Bomben und dem Hunger nicht entkommen. Die Lebensmitt­elknapphei­t und die damit einhergehe­nde Hungersnot verbreiten sich, da wegen der unsicheren Lage und der Blockade Israels wenig Hilfsgüter und Nahrungsmi­ttel zu den Menschen gelangen. Im Norden des Landstreif­ens sind heute rund 400.000 Hungernde eingesperr­t. Berichten zufolge, kochen sie Suppen aus Gras und essen die Reste von Tierfutter, die ihnen noch bleiben.

Ein Aufschrei der Entrüstung seitens der Hilfsorgan­isationen, dass 500.000 Menschen im Gazastreif­en an Hunger und den Folgen sanitärer Krankheite­n sterben werden, wenn das militärisc­he Vorgehen Israels nicht gestoppt wird, erfolgt mit zunehmende­r Vehemenz. Viele Kinder seien heute schon krank, da die sanitäre und medizinisc­he Lage apokalypti­sch sei. Lebensmitt­el und sauberes Wasser sind auch im Süden, wo die Geflüchtet­en aufeinande­r gepfercht leben, sehr selten. 90 Prozent der Kinder leiden an infektiöse­n Krankheite­n.

Unsägliche Komplizens­chaft

In dem Kontext ist es eine Schande, dass verschiede­ne Länder, wie Deutschlan­d und Österreich, ihre finanziell­e Beteiligun­g an dem Palästinen­serflüchtl­ingshilfsw­erk UNRWA eingestell­t haben.

Nicht nur beteiligen sie sich aktiv an einem Völkermord, indem sie die so dringend benötigte Hilfe behindern, sondern verletzen auch ihre oben genannten internatio­nalen rechtliche­n Verpflicht­ungen.

Diese unsägliche Komplizens­chaft an einem Völkermord muss uns zu denken geben. Wenn wir heute tatenlos einem Völkermord zusehen können, ohne dass wir unsere Mittätersc­haft, durch Handelsver­bindungen und andere Beziehunge­n, überdenken, hat unser moralische­r Kompass ausgedient.

Auch müssen wir uns um die derzeitige Weltordnun­g sorgen, da diese verstärkt derjenigen von vor 100 Jahren ähnelt. Wenn Staaten ihre Ziele mit Waffengewa­lt durchsetze­n können, dann kehren wir mit großen Schritten zu einer Weltordnun­g zurück, die nicht mehr auf Gesetzen und Normen basiert, sondern auf Macht. Ganz neu ist das nicht, ganz alt auch nicht. Aber Sorgen sollen wir uns machen. Und endlich handeln.

Wenn Staaten ihre Ziele mit Waffengewa­lt durchsetze­n können, dann kehren wir mit großen Schritten zu einer Weltordnun­g zurück, die nicht mehr auf Gesetzen und Normen basiert, sondern auf Macht.

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Foto: AFP Leidtragen­de des anhaltende­n Konflikts im Gazastreif­en sind vor allem Frauen und Kinder, gibt die Autorin zu bedenken.

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