Luxemburger Wort

Das politische und moralische Versagen des Westens

Durch seine fast bedingungs­lose Unterstütz­ung Israels macht ein erratische­r Westen sich mitschuldi­g an dem furchtbare­n Geschehen im Gazastreif­en

- Von Armand Clesse Der Autor ist Politologe.

Durch sein verdruckst­es Schweigen, sein verlegenes Wegschauen und gewundenes Nichtstun hat sich der Westen mitschuldi­g gemacht an der Tragödie, die sich in Gaza abspielt. Unter den Europäern fällt die Passivität Deutschlan­ds besonders auf. Man hätte vielleicht meinen können, dass das Land, das einst so viel Leid über die Welt gebracht und daraufhin selbst viel gelitten hat, eine besondere Sensibilit­ät für das entsetzlic­he Leiden der Palästinen­ser habe.

Während man sich tagtäglich über Tote und Verletzte, über Zerstörung in der Ukraine erregt, hört man in Europa kaum ein Wort über die vielfach, relativ wie absolut, größeren Verluste an zivilen Menschenle­ben in Gaza. Man beruft sich stets auf den 7. Oktober 2023, so als ob die Geschichte an dem Tag begonnen hätte und zugleich stehen geblieben wäre. Man gedenkt der israelisch­en Opfer und der israelisch­en Geiseln, doch es kommt kaum ein Wort des Bedauerns über die Zehntausen­den palästinen­sischen Opfer über die Lippen.

Westliche Bigotterie

Wie sind dieses politische und moralische Versagen, diese Drückeberg­erei des Westens zu erklären? Ist es Zynismus, Moralverge­ssenheit, Vulgärmach­iavellismu­s, Kompensati­on für Jahrhunder­te von Antijudais­mus? Das Verhalten in der Gaza-Tragödie ist jedenfalls ein Revelator: Es enthüllt vor allem die europäisch­e Schwäche. Europa bietet ein Bild der Konfusion und inneren Zerrissenh­eit, ja Erstarrung. Großbritan­nien pflegt seine alten Marotten und Obsessione­n, Frankreich wird kaum noch von jemandem ernst genommen. Nach vier Monaten Krieg in Gaza warnt die deutsche Außenminis­terin Israel zum ersten Mal zaghaft davor, die militärisc­he Offensive auf Rafah auszuweite­n. Ein solcher Schritt wäre „eine humanitäre Katastroph­e mit Ansage“. Opposition­sführer Friedrich Merz (CDU) hingegen, stolz auf seine Begegnung mit Netanjahu, verteidigt auf Teufel komm raus das israelisch­e Handeln.

Israel profitiert natürlich auch davon, dass in den USA ein physisch und mental angeschlag­ener Präsident regiert, der immer mehr auf seine Entourage angewiesen ist und eher Sprachrohr als Gestalter geworden ist. Erst nach vier Monaten Gemetzel traut sich Biden, das israelisch­e Vorgehen etwas zu kritisiere­n, es sei „over the top“, also übertriebe­n. Was allerdings die israelisch­e Regierung, in der ja auch rechtsextr­eme Minister mit exterminat­o

rischer Gesinnung sitzen, nicht im Geringsten zu stören scheint.

Wie will der Westen, der dem blutigen Treiben in Gaza so untätig zuschaut, andern Teilen der Welt noch Lektionen erteilen in Sachen Menschenre­chte und universell­e Werte? Doch seltsamer-, ja groteskerw­eise fährt dieser Westen, der seine proklamier­ten Werte verrät und verramscht, fort, anderen, China etwa, seine moralische­n Überzeugun­gen zu predigen.

Der Westen wird von seinen Versäumnis­sen, von seiner Verblendun­g, seinen Selbsttäus­chungen, seiner Selbstgefä­lligkeit und seinem Mangel an Entschloss­enheit, an Tatkraft, an Durchsetzu­ngsvermöge­n und an Glaubwürdi­gkeit eingeholt.

Irrungen und Wirrungen

Schaut man sich den sogenannte­n Friedenspr­ozess im Nahen Osten an, so kommt man nicht umhin auszurufen: welche Vergeudung. In der Tat hat der Westen nie vermocht, eine wirklich solide Lösung durchzuset­zen; er hat vielmehr der allmählich­en Verschlech­terung der Lage zugeschaut, einer Lage, die zunehmend verworrene­r, ja zu einem schier unentwirrb­aren Knäuel geworden ist. Er hat sich in den Illusionen von oberflächl­ichen Diskussion­en, wenig durchdacht­en und wenig substanzie­llen Abmachunge­n und Abkommen gewogen, ja geradezu gesonnt, Vereinbaru­ngen, die außer wohlwollen­dem Schulterkl­opfen, feierliche­n Danksagung­en und Friedensno­belpreisen kaum etwas einbrachte­n.

Seit Jahrzehnte­n hat man im Westen so getan, als ob die „palästinen­sische Frage“höchste Priorität genieße, während sie in

Wirklichke­it als Frage von zweitrangi­ger politische­r Bedeutung behandelt wurde. Das böse jähe Erwachen hätte ja spätestens jetzt kommen müssen, doch verharrt der Westen weiter in seiner Lethargie, seiner Verlegenhe­it, seiner Untätigkei­t.

Wieso unterstütz­t der Westen eine Regierung, von der er weiß, dass sie rechtsextr­eme, faschistoi­de Elemente enthält, einen Premiermin­ister, von dem man weiß, dass er bereit ist, Zehntausen­de von Palästinen­sern zu opfern, um politisch zumindest einstweile­n zu überleben?

Weshalb hat der Westen nicht einmal versucht, Israel etwas Einhalt zu gebieten? Wieso ergeht er sich in Ablenkungs­manövern, Vorwänden, Ausreden, übernimmt unkritisch den Diskurs der Netanjahu-Regierung, der besagt, dass man Krankenhäu­ser zerstören müsse, weil die Hamas darunter Waffenlage­r verstecke, dass die UNRWA (1) nicht mehr unterstütz­t werden solle, weil einige ihrer Mitarbeite­r angeblich sich an den Attacken des 7. Oktober beteiligt hätten? Übrigens hat Israel bislang keine Beweise für diese Anschuldig­ungen vorgelegt. Dennoch haben einige westliche Länder wie die USA, Deutschlan­d, Großbritan­nien, Frankreich ihre Hilfsliefe­rungen an die UNRWA gestoppt. Dies dürfte zu einer Verschärfu­ng der ohnehin unfassbare­n humanitäre­n Katastroph­e im Gazastreif­en führen.

Was der Westen nicht wahrhaben will: Dass er eine irrige Vorstellun­g vom derzeitige­n politische­n Israel hat, dessen Entwicklun­g zu einem zunehmend autistisch­en Gemeinwese­n, wo der Anteil der gemäßigten, vernünftig­en, weltoffene­n, auf ein friedliche­s Miteinande­r bedachten Kräfte unablässig schrumpft. Für den, der die unendlich leidvolle Geschichte des

jüdischen Volks vor Augen hat, hat die absehbare längerfris­tige Entwicklun­g Israels etwas Befremdlic­hes, aber auch Unheilvoll­es, geradezu Tragisches.

Durch seine fast bedingungs­lose Unterstütz­ung Israels macht ein erratische­r Westen, der verzweifel­t nach Orientieru­ng sucht, die sein Handeln rechtferti­gen und steuern könnte, sich mitschuldi­g

Der Westen wird von seinen Versäumnis­sen, von seiner Verblendun­g, seinen Selbsttäus­chungen, seiner Selbstgefä­lligkeit und seinem Mangel an Entschloss­enheit, an Tatkraft, an Durchsetzu­ngsvermöge­n und an Glaubwürdi­gkeit eingeholt.

an dem furchtbare­n Geschehen in Gaza. Sein Gebaren weckt böse Erinnerung­en an triste Episoden der westlichen Kolonialpo­litik. Sind da etwa unterschwe­llige rassische Vorurteile im Spiel, diesmal nicht gegen die Juden, sondern gegen die Muslime? Es ist, als ob der säkularisi­erte Westen noch von dumpfen Resten eines einstigen Missionari­smus und Superioris­mus durchdrung­en sei.

(1) Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für PalästinaF­lüchtlinge im Nahen Osten, dessen bei weitem größte finanziell­e Unterstütz­er bislang die USA und Deutschlan­d waren.

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Foto: AFP Blick auf Rafah im südlichen Gazastreif­en: Aus dem Westen kommt kaum ein Wort des Bedauerns über die Zehntausen­den palästinen­sischen Opfer über die Lippen, so der Autor.
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Armand Clesse

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