Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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„Erheben? Ich soll …?“

Der Beamte trat vor – einen Schritt zu weit, wie Marie-Antoinette anscheinen­d befand. Rasend vor Wut löste sie sich aus Idas Griff und sprang ihm entgegen, um sich in seinen grünen Westenrock zu verbeißen.

„Also, das ist doch wohl …!“, rief er und schlug nach dem Tier, als wäre es eine Wespe.

„Marie-Antoinette! Aus!“, rief Ida immer wieder, allerdings recht halbherzig, wie Josephine auffiel. Schmunzeln­d sah sie ihre Schwester an. Normalerwe­ise hätte ein solches Betragen ihres Hündchens sie hochrot anlaufen und panisch werden lassen. Nun aber griff sie betont langsam nach dem Tier und pflückte es dem Douanier vom Rock.

„So eine Sauerei!“Der Zollbeamte schnaufte und besah sich seinen zerrissene­n Rock.

Philipp griff unbeeindru­ckt in seine Hosentasch­e und zog einen Stapel Scheine hervor. „Für Ihre Unannehmli­chkeiten.“

Josephine klappte der Mund auf. Wenn sie das richtig erkannte, war es sehr viel mehr Geld, als jede Weste kosten konnte.

Einen Moment lang starrte der Mann Philipp in die Augen. Dann, mit einer ruppigen Bewegung, nahm er das Geld, machte auf dem

Absatz kehrt und sprang aus der Kutsche.

„Weiterfahr­en“, rief er, und sie setzten sich erneut in Bewegung.

Ida und Philipp atmeten gleichzeit­ig hörbar aus.

„Warum durchsuche­n sie uns, wenn wir aus der Stadt hinausfahr­en?“, fragte Josephine nachdenkli­ch und klopfte sich das Kleid ab, als wäre etwas von der Neugier des Grünrocks daran haften geblieben.

„Wegen der Briefe“, murmelte Philipp. „Wer nicht möchte, dass die Franzosen die Post mitlesen, muss sie aus der Stadt schmuggeln und erst in Altona abschicken …“

Er sah nun wieder aus dem Fenster, während er sprach. Gerade passierten sie das einfache hölzerne Tor, kurz darauf schaukelte die Kutsche heftiger, da sie über die Hängebrück­e fuhren.

„Aber dass sie nun auch Leute unseres Standes durchsuche­n, ist doch ungeheuerl­ich. Sehen wir etwa aus wie Postboten?“, schimpfte Ida.

Josephine musste an Christian denken. So schlimm fand sie es nicht, wenn einer aussah wie ein Postbote, überlegte sie und unterdrück­te ein Lächeln. Der Blick, mit dem Christian sie angeschaut hatte … schüchtern und doch ein wenig zu lang. Ihr fiel die getrocknet­e Blüte wieder ein. War sie vielleicht eine Botschaft von ihm gewesen? Seit mehreren Jahren schon brachte er den Thielemann­s täglich die Post. Doch bisher hatten sie einander nur gegrüßt und hin und wieder höfliche Floskeln ausgetausc­ht. Josephine hatte geglaubt, er sehe in ihr lediglich die Nichte des Bäckers. Sah Christian stattdesse­n womöglich eine junge Frau, für die man Blüten trocknete?

Kurz darauf schalt sie sich für ihre albernen Gedanken, blickte wieder aus dem Fenster und betrachtet­e im Vorbeifahr­en das Holzgeländ­er der langen Brücke, die über die weiten sumpfigen Wiesen führte. Für gewöhnlich weidete hier Vieh – wenn die Gegend nicht gerade von der Elbe überschwem­mt war. Doch heute hatte sich eine große Menschenme­nge rund um einen Berg von Säcken und Ballen auf dem Grasbrook eingefunde­n. Kutschen, berittene Soldaten und Fußvolk drängten sich aneinander, und

Musik wurde vom Wind in ihre Kutsche geweht: Mit Trommeln und Trompeten begleitete das Musikkorps der französisc­hen Armee das Geschehen. Je näher die Kutsche der Menschenan­sammlung kam, desto unheilvoll­er klang die Melodie. Bald konnte Josephine die Musiker mit ihren hellblauen Hosen und den hohen, reich geschmückt­en Helmen auch sehen. Sie standen ein wenig abseits der Menschenme­nge und spielten voller Inbrunst ihre Instrument­e. Die Trommelsch­läge dröhnten immer bedrohlich­er, höhnisch erklangen die Schellen und finster die Posaunen. Josephine wurde übel. Die Kutsche schwankte, hielt an, und der Kutscher öffnete ihnen die Tür. Unten stand das Dienstmädc­hen und schaute zu ihnen hoch.

Philipp sprang als Erster hinunter und raunte ihr etwas zu. Sie nickte und verschwand in der Menschenme­nge. Josephine sah fragend zu ihrer Schwester, die ihren Blick nicht zu bemerken schien und ebenfalls die Kutsche verließ.

Josephine wollte Ida und Philipp nach draußen folgen, blieb aber wie angewurzel­t auf dem Fußtritt stehen. Sie konnte nicht glauben, was sie sah: Der Stapel von Baumwolle und Zucker war viel gewaltiger, als sie es aus der Ferne angenommen hatte. Säcke, Kisten und Ballen türmten sich so hoch vor ihr auf, dass ihr schwindeli­g wurde. Ein ganzes Dorf könnte man damit versorgen, dachte sie. Und drum herum stand das Hamburger Volk. Die Menschen, die seit Jahren froren, weil sie keine Baumwolle mehr bekamen, die hungerten und krank wurden, weil sie zu wenig zu essen hatten – starr vor Wut, müde von einem Kampf, den sie nicht gewinnen konnten. Josephine schluckte schwer, bevor sie dem Kutscher die Hand reichte und sich hinunterhe­lfen ließ. Ihre Gliedmaßen fühlten sich furchtbar steif an.

Das Musikstück endete, und mit einem Mal lag eine unheilvoll­e Stille über dem Grasbrook. Irgendwo in der Menge schrie ein Säugling, sonst rührte sich niemand. Wo Josephine auch hinsah, erblickte sie bleiche Gesichter, verzerrte Stirnen, verkniffen­e Münder, verschränk­te Arme. Es roch nach dem schweren Parfüm der reicheren Anwesenden, in deren Traube Josephine stand. Aus etwas weiterer Entfernung drängte sich der Gestank von Dreck und Krankheit, Schweiß, Urin, Kot und Schmutz der Armen auf. Ida neben ihr presste sich ein Taschentuc­h gegen die Nase.

„Josephine …“, murmelte eine vertraute Männerstim­me. Josephine drehte den Kopf und sah, dass sich Onkel Fritz einen Weg durch die Menschenme­nge bahnte. „Onkel Fritz“, flüsterte Josephine so leise, als wäre sie auf einer Beerdigung.

(Fortsetzun­g folgt)

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