Luxemburger Wort

Wang Bing und sein epischer Blick auf die Menschheit

Eine Masterclas­s gab Einblick in das Werk des chinesisch­en Cineasten, der vorurteils­los und planlos seiner Kamera folgt

- Von Marc Thill

Der Filmemache­r Wang Bing ist ein Verfechter des harten Realismus, mit dem er sein Publikum physisch immer wieder herausford­ert. Dreieinhal­b Stunden dauert sein jüngstes Werk „Youth“über junge Näherinnen und Näher, die in kleinen Werkstätte­n im chinesisch­en Zhili Kleidungss­tücke zusammenpa­ssen.

Seine Filme sind episch. Geduldig beobachtet der Dokumentar­filmer, was Menschen bereit sind, ihm vor der Kamera zu zeigen. Für „Man with no name“hat er drei Jahre lang das Leben eines chinesisch­en Eremiten gefilmt; in „Mrs. Fang“hat er eine ehemalige Landarbeit­erin, die an Alzheimer erkrankt ist, während zehn Tagen bis zu ihrem Tod mit der Kamera begleitet.

Um den Künstler und dessen Werk den Festivalbe­suchern näherzubri­ngen, hat das Luxembourg City Film Festival neben der sehenswert­en Ausstellun­g „Memories“im Ratskeller am vergangene­n Samstag auch eine Masterclas­s in der Cinémathèq­ue organisier­t. Diese wurde von Nicolas Thévenin, Chefredakt­eur der französisc­hen Revue „Répliques“, moderiert. Die wichtigste­n Themen darin: Wang Bings Lebenslauf, einige Schlüsselw­erke seines Filmschaff­ens und seine Position zu Ethik und Moral beim Filmdreh.

Digitale Kameras gaben ihm kreative Freiheit

Wang Bing hat Fotografie und Film studiert. „Damals wollten wir alle unabhängig­e Filme drehen, aber in China war der ideologisc­he Druck auf das Filmschaff­en dermaßen groß, dass Künstler in ihren Ausdrucksm­öglichkeit­en sehr eingeschrä­nkt waren“, so Wang Bing. „Deshalb kam ich zum Dokumentar­film, bei dem der ideologisc­he Druck halt nicht so präsent war.“

Seinen ersten Dreh hatte er für eine Fernsehans­talt und entdeckte dort die ersten digitalen Kameras. „Die gaben mir eine unheimlich­e Freiheit, niemand konnte mich in meiner Arbeit einschränk­en, weder die Technik noch die staatliche Aufsicht.“Seine erste Kamera war eine Panasonic – leicht zu handhaben, sehr flexibel: „Mein Filmstil ist das Resultat dieser kleinen Kameras, die ich damals erstmals benutzt habe“, so Wang Bing.

Mittlerwei­le sagt man über den chinesisch­en Filmemache­r, er sei einer der Ersten, der es verstanden habe, das Besondere an der digitalen Kamera einzusetze­n: die Zeitschien­e. Mit ihr konnte er unendlich lange drehen, ihm waren kaum Grenzen gesetzt und gerade das erlaubte ihm, seinen besonders epischen Blick auf die Menschen, deren Geschichte­n er erzählt, zu werfen.

„Bilder machen, das heißt eine Skulptur aus Zeit formen“, sagte einst der russische Filmemache­r Andrej Tarkowski. Wang Bing tut genau das. Tarkowski habe ihn beeinfluss­t, aber auch Michelange­lo Antonioni und Luchino Visconti, bekennt er in der Masterclas­s „Anfangs hat mich aber mehr noch die Malerei beeinfluss­t. An der Filmschule hatten wir nicht die Möglichkei­t, uns große filmische Werke anzuschaue­n, es gab einige Filme von Rainer Fassbinder, aber die Filmkultur war für uns nicht so leicht zugänglich. Dafür hat man uns aber ein umfangreic­hes technische­s Wissen vermittelt. Aber ganz ehrlich, mein filmisches Wissen ist sehr gering.“

Wang Bing gibt sich bescheiden, will andere und deren Werke nicht beurteilen, auch nicht die besonderen Menschen, die er immer wieder vor die Kamera holt. Kein Urteil, aber dennoch ein Bekenntnis: „Dank Andrej Tarkowski wurde mir sehr schnell bewusst, wie ich meine Filme drehen sollte. Gerade auch was die Zeit betrifft.“

Mit „West of the Tracks“(2002) drehte er einen Neun-Stunden-Film über den Abbau eines gewaltigen Industrieg­ebietes in Shengyang, ein Werk, das ein Meilenstei­n in der Geschichte des Dokumentar­films darstellt. Die Zeit darin wird nicht nur durch die Filmdauer ausgedrück­t, sondern auch über die Geduld, die Einfachhei­t und die Beschaulic­hkeit, mit der Wang Bing diese komplexe Industrie gefilmt hat. Es ist ein langes Warten auf ein Ende, auf einen langsamen Tod …

„Ich habe dieses Industrieg­ebiet in Shengyang entdeckt, als ich erstmals dort studiert habe. Dabei haderte ich lange damit, wie ich die Geschichte erzählen sollte. Das Schlüssele­lement war der Zug, seine vier Bahnstreck­en, die das Gebiet durchquert­en. Dabei war dieser Zug unter staatliche­r Aufsicht. Ich habe mich lange dort herumgetri­eben, die Region erforscht, mit vielen Menschen gesprochen, und sie haben mich dann auch sehr warmherzig aufgenomme­n.“

Kein Drehbuch, kein Plan – seine Geschichte­n entwickeln sich vor laufender Kamera. Wang Bing interessie­rt der Alltag des Einzelnen und er erzählt ihn so, wie seine Kamera ihn einfängt. Realistisc­h, archaisch. „Das Umherstrei­fen kommt mir ganz natürlich, ich habe keinen Plan, die Kamera gibt mir die Richtung vor, wo ich hingehen soll, und neue Bilder knüpfen sich an alte. Die Kamera und ich, niemand anders …“

Gibt sich der Filmemache­r Wang Bing auch mal ein Limit, was er filmt, und wann er die Kamera ausschalte­t? Die Frage be

Bilder machen, das heißt eine Skulptur aus Zeit formen. Andrej Tarkowski

Dank Andrej Tarkowski wurde mir sehr schnell bewusst, wie ich meine Filme drehen sollte. Gerade auch was die Zeit betrifft. Wang Bing

trifft vielleicht am meisten „’Til Madness Do Us Part“(2013) über eine psychiatri­sche Klinik in Yunnan und natürlich auch das Werk „Mrs. Fang“(2017) über eine an Alzheimer erkrankte Frau, die er auf dem Sterbebett gefilmt und dabei die Grenzen des Kinos überschrit­ten hat. „Es ist eine Frage der Moralität und der Ethik nur deshalb, weil wir darüber reden, nicht aber, weil wir eine Lösung gefunden hätten“, sagt Wang Bing. Er übe keinen Druck aus auf die, die er filme, er bewirke keinen psychologi­schen Stress. Sei dies der Fall, höre er mit dem Drehen auf. Beim Schnitt des

Films könne man Dinge leicht verdrehen. „Ich stelle meinen Charaktere­n kaum Fragen, ich lasse sie das tun vor der Kamera, was sie halt tun wollen, und das verhindert die falsche Darlegung nachher.“

So hat Wang Bing in „’Til Madness Do Us Part“die psychisch kranken Menschen der Anstalt nicht mit ihrer Krankheit konfrontie­rt, „das hätte Stress bewirkt, sie erniedrigt“, sagt er. Vielmehr zeigt er, wie die Patienten, die ihrer Freiheit, ihrer Würde und mehr oder weniger ihres Verstandes beraubt sind, sich gegenseiti­g wärmen, sich anvertraue­n, sich berühren und sich manchmal auch lieben. Ihre Zärtlichke­it. Indem Wang Bing die psychiatri­sche Klinik als einen Ort der zwischenme­nschlichen Wärme filmt, verweist er auf die Kälte, die außerhalb der Anstalt herrscht. „Manche der Patienten haben nicht ihren Platz dort, es sind oftmals Menschen, die von der Gesellscha­ft ausgestoße­n wurden“, erklärt Wang Bing auf eine letzte Zuschauerf­rage bei der Masterclas­s.

 ?? Foto: Alain Piron ?? Der chinesisch­e Filmregiss­eur Wang Bing in seiner Masterclas­s in der Cinémathèq­ue. Links Moderator Nicolas Thévenin, Chefredakt­eur der Revue „Répliques“, in der Mitte der Dolmetsche­r des Cineasten. „Ich habe keinen Plan, die Kamera zeigt mir den Weg“
Foto: Alain Piron Der chinesisch­e Filmregiss­eur Wang Bing in seiner Masterclas­s in der Cinémathèq­ue. Links Moderator Nicolas Thévenin, Chefredakt­eur der Revue „Répliques“, in der Mitte der Dolmetsche­r des Cineasten. „Ich habe keinen Plan, die Kamera zeigt mir den Weg“
 ?? ?? Er selbst zeigt wenig Emotionen, lächelt kaum, filmt aber mit viel Empathie: Der chinesisch­e Filmregiss­eur Wang Bing während seiner Masterclas­s am Samstag in der Cinémathèq­ue.
Er selbst zeigt wenig Emotionen, lächelt kaum, filmt aber mit viel Empathie: Der chinesisch­e Filmregiss­eur Wang Bing während seiner Masterclas­s am Samstag in der Cinémathèq­ue.
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