Wang Bing und sein epischer Blick auf die Menschheit
Eine Masterclass gab Einblick in das Werk des chinesischen Cineasten, der vorurteilslos und planlos seiner Kamera folgt
Der Filmemacher Wang Bing ist ein Verfechter des harten Realismus, mit dem er sein Publikum physisch immer wieder herausfordert. Dreieinhalb Stunden dauert sein jüngstes Werk „Youth“über junge Näherinnen und Näher, die in kleinen Werkstätten im chinesischen Zhili Kleidungsstücke zusammenpassen.
Seine Filme sind episch. Geduldig beobachtet der Dokumentarfilmer, was Menschen bereit sind, ihm vor der Kamera zu zeigen. Für „Man with no name“hat er drei Jahre lang das Leben eines chinesischen Eremiten gefilmt; in „Mrs. Fang“hat er eine ehemalige Landarbeiterin, die an Alzheimer erkrankt ist, während zehn Tagen bis zu ihrem Tod mit der Kamera begleitet.
Um den Künstler und dessen Werk den Festivalbesuchern näherzubringen, hat das Luxembourg City Film Festival neben der sehenswerten Ausstellung „Memories“im Ratskeller am vergangenen Samstag auch eine Masterclass in der Cinémathèque organisiert. Diese wurde von Nicolas Thévenin, Chefredakteur der französischen Revue „Répliques“, moderiert. Die wichtigsten Themen darin: Wang Bings Lebenslauf, einige Schlüsselwerke seines Filmschaffens und seine Position zu Ethik und Moral beim Filmdreh.
Digitale Kameras gaben ihm kreative Freiheit
Wang Bing hat Fotografie und Film studiert. „Damals wollten wir alle unabhängige Filme drehen, aber in China war der ideologische Druck auf das Filmschaffen dermaßen groß, dass Künstler in ihren Ausdrucksmöglichkeiten sehr eingeschränkt waren“, so Wang Bing. „Deshalb kam ich zum Dokumentarfilm, bei dem der ideologische Druck halt nicht so präsent war.“
Seinen ersten Dreh hatte er für eine Fernsehanstalt und entdeckte dort die ersten digitalen Kameras. „Die gaben mir eine unheimliche Freiheit, niemand konnte mich in meiner Arbeit einschränken, weder die Technik noch die staatliche Aufsicht.“Seine erste Kamera war eine Panasonic – leicht zu handhaben, sehr flexibel: „Mein Filmstil ist das Resultat dieser kleinen Kameras, die ich damals erstmals benutzt habe“, so Wang Bing.
Mittlerweile sagt man über den chinesischen Filmemacher, er sei einer der Ersten, der es verstanden habe, das Besondere an der digitalen Kamera einzusetzen: die Zeitschiene. Mit ihr konnte er unendlich lange drehen, ihm waren kaum Grenzen gesetzt und gerade das erlaubte ihm, seinen besonders epischen Blick auf die Menschen, deren Geschichten er erzählt, zu werfen.
„Bilder machen, das heißt eine Skulptur aus Zeit formen“, sagte einst der russische Filmemacher Andrej Tarkowski. Wang Bing tut genau das. Tarkowski habe ihn beeinflusst, aber auch Michelangelo Antonioni und Luchino Visconti, bekennt er in der Masterclass „Anfangs hat mich aber mehr noch die Malerei beeinflusst. An der Filmschule hatten wir nicht die Möglichkeit, uns große filmische Werke anzuschauen, es gab einige Filme von Rainer Fassbinder, aber die Filmkultur war für uns nicht so leicht zugänglich. Dafür hat man uns aber ein umfangreiches technisches Wissen vermittelt. Aber ganz ehrlich, mein filmisches Wissen ist sehr gering.“
Wang Bing gibt sich bescheiden, will andere und deren Werke nicht beurteilen, auch nicht die besonderen Menschen, die er immer wieder vor die Kamera holt. Kein Urteil, aber dennoch ein Bekenntnis: „Dank Andrej Tarkowski wurde mir sehr schnell bewusst, wie ich meine Filme drehen sollte. Gerade auch was die Zeit betrifft.“
Mit „West of the Tracks“(2002) drehte er einen Neun-Stunden-Film über den Abbau eines gewaltigen Industriegebietes in Shengyang, ein Werk, das ein Meilenstein in der Geschichte des Dokumentarfilms darstellt. Die Zeit darin wird nicht nur durch die Filmdauer ausgedrückt, sondern auch über die Geduld, die Einfachheit und die Beschaulichkeit, mit der Wang Bing diese komplexe Industrie gefilmt hat. Es ist ein langes Warten auf ein Ende, auf einen langsamen Tod …
„Ich habe dieses Industriegebiet in Shengyang entdeckt, als ich erstmals dort studiert habe. Dabei haderte ich lange damit, wie ich die Geschichte erzählen sollte. Das Schlüsselelement war der Zug, seine vier Bahnstrecken, die das Gebiet durchquerten. Dabei war dieser Zug unter staatlicher Aufsicht. Ich habe mich lange dort herumgetrieben, die Region erforscht, mit vielen Menschen gesprochen, und sie haben mich dann auch sehr warmherzig aufgenommen.“
Kein Drehbuch, kein Plan – seine Geschichten entwickeln sich vor laufender Kamera. Wang Bing interessiert der Alltag des Einzelnen und er erzählt ihn so, wie seine Kamera ihn einfängt. Realistisch, archaisch. „Das Umherstreifen kommt mir ganz natürlich, ich habe keinen Plan, die Kamera gibt mir die Richtung vor, wo ich hingehen soll, und neue Bilder knüpfen sich an alte. Die Kamera und ich, niemand anders …“
Gibt sich der Filmemacher Wang Bing auch mal ein Limit, was er filmt, und wann er die Kamera ausschaltet? Die Frage be
Bilder machen, das heißt eine Skulptur aus Zeit formen. Andrej Tarkowski
Dank Andrej Tarkowski wurde mir sehr schnell bewusst, wie ich meine Filme drehen sollte. Gerade auch was die Zeit betrifft. Wang Bing
trifft vielleicht am meisten „’Til Madness Do Us Part“(2013) über eine psychiatrische Klinik in Yunnan und natürlich auch das Werk „Mrs. Fang“(2017) über eine an Alzheimer erkrankte Frau, die er auf dem Sterbebett gefilmt und dabei die Grenzen des Kinos überschritten hat. „Es ist eine Frage der Moralität und der Ethik nur deshalb, weil wir darüber reden, nicht aber, weil wir eine Lösung gefunden hätten“, sagt Wang Bing. Er übe keinen Druck aus auf die, die er filme, er bewirke keinen psychologischen Stress. Sei dies der Fall, höre er mit dem Drehen auf. Beim Schnitt des
Films könne man Dinge leicht verdrehen. „Ich stelle meinen Charakteren kaum Fragen, ich lasse sie das tun vor der Kamera, was sie halt tun wollen, und das verhindert die falsche Darlegung nachher.“
So hat Wang Bing in „’Til Madness Do Us Part“die psychisch kranken Menschen der Anstalt nicht mit ihrer Krankheit konfrontiert, „das hätte Stress bewirkt, sie erniedrigt“, sagt er. Vielmehr zeigt er, wie die Patienten, die ihrer Freiheit, ihrer Würde und mehr oder weniger ihres Verstandes beraubt sind, sich gegenseitig wärmen, sich anvertrauen, sich berühren und sich manchmal auch lieben. Ihre Zärtlichkeit. Indem Wang Bing die psychiatrische Klinik als einen Ort der zwischenmenschlichen Wärme filmt, verweist er auf die Kälte, die außerhalb der Anstalt herrscht. „Manche der Patienten haben nicht ihren Platz dort, es sind oftmals Menschen, die von der Gesellschaft ausgestoßen wurden“, erklärt Wang Bing auf eine letzte Zuschauerfrage bei der Masterclass.