Mexico City: Die Angst vor dem „Tag Null“
Der Millionenmetropole könnte in den kommenden Monaten das Wasser ausgehen. Die Stadt leidet schon lange unter fortschreitender Trockenheit
Für Reyna Díaz und ihre Familie ist der morgendliche Gang in Küche und Bad ein bisschen wie eine Lotterie. Wenn die 70-Jährige oder ein Mitglied ihrer vierköpfigen Familie die Wasserhähne aufdreht, dann passiert immer öfter: nichts. Oder es zischt, tropft ein bisschen und mit Glück kommt dann eine rostige oder milchige Brühe aus dem Hahn. Fließendes, klares Wasser? „Immer seltener“, sagt sie. Díaz wohnt weit draußen im Südwesten von Mexico City, umringt von Stadtautobahnen und Businesstempeln. Das Wasser hier in der Peripherie der größten Stadt Lateinamerikas mit ihren rund 22 Millionen Einwohnern war schon immer knapp. „Aber so wie jetzt war es noch nie. Wir sind ja froh, wenn überhaupt noch Wasser aus dem Hahn kommt.“
Andernfalls muss Familie Díaz auf die „Pipas“hoffen, die kommunalen Tankwagen, auf denen „Agua potable“– Trinkwasser steht und die man immer öfter in den Randgebieten der Stadt umherfahren sieht. Sie füllen dann mit dicken Feuerwehrschläuchen Plastikfässer, Eimer und Behälter jeder Art mit Wasser. Wenn die Stadt die Tankwagen mit dem blauen Gold sendet, ist es gratis. Aber da die Behörden mit der Nachfrage nicht nachkommen, müssen auch immer mehr Menschen von professionellen Anbietern kaufen. Kostenpunkt hier: Knapp 70 Euro für 10.000 Liter. Für die Mehrheit der armen Familien ist das eine Investition, die sie sich kaum leisten können.
Im Südwesten von Mexico City fokussieren sich wie unter einem Brennglas die Wasserprobleme der Megalopolis: Zu viele Menschen, lecke Leitungen, kaputte Pumpen, schlechte Qualität des Wassers und ein Staat, der kaum nachhaltige Lösungen für ein drängendes Versorgungsproblem hat. In mehr als 200 Stadtteilen und Bezirken des Großraums ist die Wasserversorgung seit Jahresbeginn eingestellt oder wird immer mal wieder unterbrochen. Die Proteste der Betroffenen nehmen zu, und die Unzufriedenheit überschattet bereits die Wahlen am 2. Juni, wenn ein neuer Präsident und ein neuer Bürgermeister für Mexico City bestimmt werden.
Die Stadt ist schlicht zu groß, zu ungünstig gelegen, zu durstig und die Infrastruktur zu marode, als dass eine reibungslose und nachhaltige Versorgung dauerhaft und umweltverträglich möglich wäre. Die Metropole liegt fernab jeden Gewässers und zudem auf einer Hochebene über 2.200 Meter. Fast zwei Drittel des Wassers, das im Großraum Mexiko verbraucht wird, kommt aus dem Grundwasser. Mehr als 2.000 Pumpen verteilt über das ganze Stadtgebiet saugen jeden Tag Millionen Liter des blauen Goldes immer tiefer unter der Betonwüste hervor. Das Ergebnis: Teile der Stadt sacken ab, mehrere Zentimeter pro Jahr.
„Angekündigte Tragödie“
Ein knappes Drittel des Wassers wird durch das Cutzamala-Stausystem eingespeist. Von dort wird das Wasser aus anderen Bundesstaaten über mehr als 100 Kilometer in die Stadt gepumpt. Aber die Staubecken sind derzeit nur zu 39 Prozent gefüllt. Lediglich zehn Prozent des Wassers werden aus Oberflächenwasser wie Flüssen, Regenwasser und Ähnlichem gedeckt. Eine Verteilung, die schon auf mittlere Sicht nicht mehr tragbar ist. Verschärfend kommen dieses Jahr die Auswirkungen des Klimawandels und der Wetterphänomene „La Niña“und „El Niño“hinzu, die Hitze und Trockenheit mit sich bringen.
Und so warnen Klimaexperten für Mexiko-Stadt vor dem „Punk Null“, dem Moment, an dem der Stadt mit ihren zehn Millionen Einwohnern und dem Ballungsraum mit seinen zwölf Millionen Menschen das Wasser ausgeht. Berechnungen zufolge könnte es Ende Juni so weit sein, vor allem dann, wenn die Regenzeit dieses Jahr spät oder verringert einsetzt. „Es ist die Chronik einer angekündigten Tragödie“, sagt Manuel Perló, Stadtforscher an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM).
Die Probleme der Stadt bei der Wasserversorgung seien seit Jahrzehnten bekannt, aber es seien nie Maßnahmen ergriffen worden, um Abhilfe zu schaffen. Perló nennt nur ein Beispiel: „Jede Sekunde gehen in Mexico City 12.000 Liter Wasser durch Lecks oder veraltete Infrastruktur verloren.“Das entspricht der Menge von 865 Fünfzig-MeterSchwimmbecken, die jeden Tag ungenutzt versickern.
Zudem sind die Einwohner von Mexico City extreme Wasserkonsumenten. Sie verbrauchen mehr als 366 Liter pro Tag, wobei der Verbrauch in den besser situierten Wohngebieten sogar durchschnittlich 567 Liter pro Einwohner und Tag erreichen kann. Nur in den USA, Australien, Japan und Italien ist der Wasserverbrauch pro Kopf höher als in Mexiko.
Durch die Nähe zu den Wahlen nehmen sich die Politiker zumindest verbal dem Thema erstmals wirklich an. Präsident Andrés Manuel López Obrador veranlasste an den Stadträndern Probebohrungen, um nach noch mehr Grundwasservorkommen zu suchen. Der Bürgermeister von Mexico City, Martí Batres, geißelte kürzlich Berichte über den Tag Null als „Fake News“der rechten Opposition.
Naturbasierte Lösungen
: Jede Sekunde gehen in Mexico City 12.000 Liter Wasser durch Lecks oder veraltete Infrastruktur verloren. Manuel Perló, Stadtforscher
Bisher wirken die Maßnahmen eher hilflos, wie etwa die, dass in den öffentlichen Waschsalons der Stadt nur noch von drei Kilo Wäsche aufwärts gewaschen werden dürfe. Experten aber fordern nachhaltige Schritte: Fabiola SosaRodríguez, Wasserexpertin an der Universität UAM sagt, mittelfristig sei eine bessere Abwasseraufbereitung notwendig. Nachhaltige Systeme zum Auffangen des Regenwassers könnten zudem die Abhängigkeit von externer Versorgung über Tankwagen um etwa ein Drittel verringern. Dringend erforderlich sei zudem die Beseitigung von Lecks in den Leitungssystemen.
Und um Mexico City nicht irgendwann zusammenfallen zu lassen, müsse dringend die Grundwasserentnahme reduziert werden. Wichtig seien zudem naturbasierte Lösungen, wie die (Wieder)Anlegung von Feuchtgebieten, die Wasser bereitstellen und reinigten. „Dadurch wird die Stadt zudem begrünt und gekühlt.“