Warum aus Frankreich kein Europa-Schutzschirm zu erwarten ist
Emmanuel Macron bietet den Europäern Gespräche über einen gemeinsamen Atomschirm an. Doch eine nukleare Teilhabe ist völlig unklar
Emmanuel Macron hat keinen Lederkoffer und auch keinen roten Knopf, mit dem er einen Atomangriff befehlen könnte. Stattdessen verfügt der französische Präsident über ein kompliziertes System aus mehreren, sich ständig ändernden Buchstaben- und Zahlenkombinationen, mit dem er im Ernstfall die Nuklearwaffen seines Landes kontrollieren kann.
Bis vor wenigen Jahren interessierten solche Details die europäischen Nachbarn kaum. Aber mit dem Krieg in der Ukraine und der drohenden Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat sich das schlagartig geändert. Da Trump die Beistandspflicht für die NATOVerbündeten infrage stellt, fühlen sich die Europäer unter dem US-Atomschirm nicht mehr sicher. Frankreich, seit dem Austritt der Briten einzige Atommacht in der EU, wirkt auf einmal wie der Retter in der Not. Macrons Stunde scheint damit gekommen zu sein. Er setzt sich schon lange für eine „strategische Autonomie“Europas ein. „Ein Europa, das Sicherheit in allen Dimensionen gewährleistet“, forderte er bereits in seiner berühmt gewordenen europapolitischen Rede 2017 an der Pariser Universität Sorbonne.
2020 bot Macron, der die NATO zwischenzeitlich für „hirntot“erklärt hatte, den Europäern Gespräche über die nukleare Abschreckung und sogar gemeinsame Übungen mit den französischen Atomstreitkräften an. „Unsere Atomstreitkräfte stärken die Sicherheit Europas allein durch ihre Existenz und haben dadurch eine authentische europäische Dimension“, sagte er in einer Rede vor der Militärakademie École de Guerre. Frankreich verfügt über knapp 300 Atomsprengköpfe, die von Atom-U-Booten und von Kampfflugzeugen abgeschossen werden können.
Deutschland zeigte sich den Ideen des Präsidenten gegenüber lange skeptisch. Doch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bewirkte in Berlin ein Umdenken. Als Macron Ende Januar vor der schwedischen Militärakademie Karlberg erneut die europäische Dimension der französischen Atomwaffen herausstrich, war ein Gespräch darüber plötzlich hochwillkommen. „Die jüngsten Äußerungen von Donald Trump sollten wir als Aufforderung verstehen, dieses Element der europäischen Sicherheit unter dem Dach der NATO weiter zu denken“, schrieb Finanzminister Christian Lindner in der „FAZ“.
Das französische Arsenal ist zwar im Vergleich zu den USA, die rund 5.000 Atomsprengköpfe besitzen, relativ klein. Doch es reicht aus, um einem Angreifer einen „unerträglichen“Schaden zuzufügen, wie es in der Nukleardoktrin heißt. Erst im November verkündete Verteidi
gungsminister Sébastien Lecornu stolz den erfolgreichen Test einer Langstreckenrakete, die mit rund einem Dutzend Atomsprengköpfen bestückt werden kann.
Kein Mitglied der nuklearen Planungsgruppe
Dass Frankreichs Atomwaffen auch Europa schützen könnten, ist keine neue Idee. Seit François Mitterrand sprachen alle Präsidenten von einer europäischen Funktion der Atomstreitmacht, der „Force de Frappe“. Gleichzeitig zeigte Frankreich aber keinerlei Interesse, mit den NATO-Partnern in Sachen Atomwaffen zusammen zu arbeiten. Das Land kehrte 2009 zwar in die integrierte Kommandostruktur des Bündnisses zurück, ist aber kein Mitglied der nuklearen Planungsgruppe, die für die Atomwaffen zuständig ist. Gerade in der heiklen Frage der nuklearen Abschreckung wollten sich die französischen Präsidenten, die als Oberbefehlshaber der Streitkräfte das letzte Wort haben, ihre Unabhängigkeit bewahren.
Eine atomare Teilhabe, wie sie die europäischen NATO-Mitglieder mit den USA haben, liegt mit Frankreich dadurch in weiter Ferne. Macron hat Gespräche in Aussicht gestellt, mehr nicht. „Es gibt keine Pläne, die man den Partnern anbieten könnte, um einen eigenen Nuklearschirm zu spannen“, sagt Jacob Ross von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Die Vorstellung, so etwas bis zu den US-Wahlen im November auf die Beine zu stellen, sei illusorisch.
Macron muss also noch beweisen, wie ernst ihm die europäische Dimension der atomaren Abschreckung Frankreichs ist. Dies umso mehr, als er in militärischen Dingen in Europa zwar eine Führungsrolle beansprucht, aber vergleichsweise wenig dafür tut. In den ersten Kriegstagen ließ sich der 45-Jährige als engagierter Oberbefehlshaber unrasiert im schwarzen Kapuzenpullover fotografieren, doch der großen Inszenierung folgten nur kleine Taten.
Der Ruf des schlechten Schülers
Bei der Militärhilfe an die Ukraine liegt Frankreich laut dem Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel nur auf dem 16. Platz. Das Verteidigungsministerium veröffentlichte zwar am Wochenende andere Zahlen, die Frankreich mit gelieferten Militärgütern für 2,6 Milliarden Euro deutlich besser aussehen lassen. Das Land, das im Gegensatz zu Deutschland auch Marschflugkörper zur Verfügung stellt, liegt damit aber immer noch hinter anderen Verbündeten wie Polen oder Norwegen. Größter europäischer Lieferant der Ukraine ist Deutschland.
Um den Ruf des schlechten Schülers los zu werden, organisierte Macron vergangene Woche eine Ukraine-Unterstützerkonferenz, bei der er zur Überraschung aller Teilnehmenden den Einsatz von Bodentruppen nicht ausschloss, um einen russischen Sieg zu verhindern. Der von den Partnern wie Deutschland schnell zurückgewiesene Vorschlag wurde als Teil der „strategische Zweideutigkeit“gedeutet, mit der Frankreich als Atommacht den Gegner über seine Ziele im Unklaren lässt. Das Konzept war lange in Vergessenheit geraten – mit Macron wird es nun wiederbelebt.