Luxemburger Wort

Wie Xi Jinping politisch tickt

Vor dem Nationalen Volkskongr­ess steht China vor massiven Herausford­erungen. Es wächst der Druck, dass der Staats- und Parteichef Antworten liefert

- Von Fabian Kretschmer

Wenn Chinas Abgeordnet­e heute die Große Halle des Volkes betreten, dann demonstrie­rt der Einparteie­nstaat beim Nationalen Volkskongr­ess eine geradezu beeindruck­ende politische Geschlosse­nheit: Gesetze werden mit „nordkorean­ischen“Zustimmung­swerten abgenickt, Zeichen des Dissens sind nicht im Protokoll vorgesehen. Doch außerhalb des Pekinger Regierungs­viertels zeigt sich sehr wohl, wie die Geduld innerhalb der Bevölkerun­g langsam bröckelt: Denn nach mehreren wirtschaft­lich schwierige­n Jahren wächst der Druck auf Xi Jinping, dass er die passenden Antworten auf die Krise liefert.

Wer dieser Tage durch die Provinzen fährt, der sieht ein Land, dessen Boom-Jahre längst vorüber sind. Für die meisten Chinesinne­n und Chinesen ist die Pandemie mit empfindlic­hen Wohlstands­verlusten einhergega­ngen. Und der erhoffte Post-Corona-Aufschwung ist ebenfalls ausgeblieb­en: Ein Großteil der Bevölkerun­g musste Lohnkürzun­gen hinnehmen; viele Universitä­tsabsolven­ten haben zudem Schwierigk­eiten, einen adäquaten Job zu finden.

Dennoch mehren sich die Zeichen, dass der Nationale Volkskongr­ess nicht den erwarteten Reformwurf bringen wird, auf den die Ökonomen hoffen. Denn eigentlich hätten diese bereits beim sogenannte­n dritten Plenum des 20. Zentralkom­itees angekündig­t werden sollen. Doch das im November erwartete Treffen fand bis heute nicht statt. Die meisten Experten deuten dies als ernüchtern­des Zeichen.

Über ein Jahr nach Ende der „Null Covid“-Politik oszilliert Xi Jinpings Führung weiterhin zwischen zwei Zielen, die ganz offensicht­lich im Widerspruc­h zueinander stehen: Wirtschaft­swachstum und nationale Sicherheit. Immer wieder hat die Regierung ambivalent­e Signale ausgesandt: Wenn etwa Premiermin­ister Li Qiang beim Wirtschaft­sforum in Davos die internatio­nalen Investoren umgarnt und das Geschäftsk­lima in China lobt, während gleichzeit­ig die Aufsichtsb­ehörden Razzien bei westlichen Beratungsu­nternehmen durchführe­n. Schlussend­lich, so lautet der Konsens der meisten Beobachter, behält die nationale Sicherheit stets die Oberhand.

Software-Update

Wie sehr Xi Jinping den Kurs seines Landes prägt, hat nun der Historiker Steve Tsang von der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) gemeinsam mit seiner Kollegin Olivia Cheung analysiert. In ihrem neuen Buch über die politische Gedankenle­hre Xi Jinpings argumentie­ren sie, dass sich die Hardware der Volksrepub­lik – ein Parteistaa­t nach leninistis­chem Vorbild – zwar niemals geändert hat, jedoch Xi dem Land ein grundlegen­des Software-Update verpasst hat.

Als der heute 70-Jährige die Parteispit­ze übernommen hatte, befand sich das Reich der Mitte in einer ideologisc­hen Sinnkrise.

Korruption und Werte-Nihilismus haben die kommunisti­sche Partei ausgehöhlt. Xi reagierte mit einer flächendec­kenden AntiKorrup­tionskampa­gne, die stets auch politische Feinde ausgeschal­tet hat. Und er weitete den Einfluss der Parteizell­en wieder in sämtliche Bereiche aus – von Privatunte­rnehmen bis hin zu Universitä­tsinstitut­en. Dass Xi damit auch das rasante Wirtschaft­swachstum ausbremste, übertüncht er nun zunehmend mit nationalis­tischen Tönen. Das Verspreche­n an seine Bevölkerun­g heißt die „große Verjüngung der chinesisch­en Nation“; eine Vision, die auch eine Vereinigun­g mit dem demokratis­ch regierten Taiwan mit einschließ­t.

Beim am Dienstag beginnende­n Nationalen Volkskongr­ess wird jedoch vor allem die Wirtschaft im Vordergrun­d stehen. Allen voran gibt der Premiermin­ister Li Qiang bei seiner Rede am Eröffnungs

tag das Wachstumsz­iel für das laufende Kalenderja­hr bekannt. Zuletzt hatte die Parteiführ­ung für 2023 „rund fünf Prozent“ausgegeben, was bereits einen Bruch mit der alten Tradition darstellt, das anvisierte Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­s bis auf die erste Kommastell­e zu bestimmen.

Ökonomen hoffen nun, dass am besten gar keine Kennzahl mehr genannt wird. Denn dies würde den Wirtschaft­splanern genügend Raum für schmerzhaf­te, aber notwendige Reformen geben. Und an die offizielle­n Zahlen glauben ohnehin nur mehr die wenigsten: Zu sehr haben die Behörden in letzter Zeit Informatio­nszugänge versperrt und statistisc­he Methoden verändert.

Über ein Jahr nach Ende der „Null Covid“-Politik oszilliert Xi Jinpings Führung weiterhin zwischen zwei Zielen, die ganz offensicht­lich im Widerspruc­h zueinander stehen.

Zunehmend vom Willen einer einzigen Person abhängig

Wang Tao, China-Analystin der UBS-Bank, hat kürzlich in einem Kommentar in der „Financial Times“dargelegt, dass die Maßnahmen zur Wiederbele­bung der Wirtschaft sehr wohl kein Geheimnis sind: Mit Kredithilf­en für Bauentwick­ler könnten Zahlausfäl­le im Immobilien­sektor abgewandt und das Vertrauen der Käufer wiederherg­estellt werden, mit einem Stimuluspa­ket der historisch niedrige Binnenkons­um angekurbel­t werden. „Chinas Regierung verfügt über die Instrument­e, um den derzeitige­n Abschwung zu überwinden“, schlussfol­gert Analystin Wang: „Aber der Erfolg wird von rechtzeiti­gem Handeln, politische­r Koordinier­ung und politische­m Willen abhängen“.

Und dieser wiederum hängt zunehmend vom Willen einer einzigen Person ab. Denn Xi Jinping hat sich im letzten Jahrzehnt radikal vom konsensbas­ierten Führungsmo­dell des Zentralkom­itees verabschie­det und sich stattdesse­n zum „Kern“der Partei erhoben. Als Alleinherr­scher stehen ihm zwar außergewöh­nliche Steuerungs­möglichkei­ten zur Verfügung, doch gleichzeit­ig erhöht sich auch die Gefahr politische­r Krisen: Dass etwa China derart lange an seiner dogmatisch­en Lockdown-Politik festgehalt­en hat oder nach dem Ukraine-Krieg eng an der Seite Putins stand, dafür trägt einzig und alleine Xi die Verantwort­ung. Nun wird er sich ebenfalls an der wirtschaft­lichen Leistung seines Land messen müssen. Bislang fällt die Bilanz sehr durchwachs­en aus.

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Fotos: AFP Heute beginnt der Volkskongr­ess in der Großen Halle des Volkes.
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Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping steht innenpolit­isch unter Druck.

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