Der Duft von Zimt
15
Und als sie wieder aufsah und die Reihe der Musiker neben dem Feuer nach diesen Klängen absuchte, stieß sie plötzlich überrascht Luft durch die Nase aus. Zwischen all den Musikern stand Pépin. Er hatte ein dünnes, langes Instrument in den Händen, dessen oberes Ende stark geschwungen war, hielt die Augen geschlossen und neigte sich beim Spielen immer wieder leicht vor und zurück.
Josephine schüttelte den Kopf, und die Angst, die gerade von ihr Besitz ergriffen hatte, verwandelte sich in Wut. Dieser fürchterliche Kerl war ihr immer nur albern vorgekommen. Doch jetzt wusste sie, dass er auch grausam sein konnte. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Von ihr würde jemand, der an diesem ekelerregenden Spektakel Anteil hatte, kein einziges Gebäckstück mehr bekommen.
Als das Feuer endlich kleiner geworden war, hörte Josephine einen spitzen Schrei. „Marie-Antoinette, nein! Willst du wohl hierbleiben?“
Josephine sah, wie Ida einen Schritt vorwärts stolperte und sich bückte, doch der kleine Hund entwischte ihr und verschwand so flink wie eine Maus in der Menschenmenge. Mitleidig verzog sie den Mund. Heimlich hatte sie immer schon geahnt, dass die Liebe, die Ida für Marie-Antoinette empfand, nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruhte. Dennoch wäre es für Ida eine Katastrophe, Marie-Antoinette zu verlieren, das wusste Josephine. Schließlich spendete die kleine Hündin ihr in der großen Villa mit ihren vielen kaum genutzten Räumen, den höflich distanzierten Dienstleuten und den fest geschnürten, reich geschmückten und stets unnatürlich zwitschernden Besucherinnen der höheren Gesellschaft ein wenig echter Wärme.
„Um Himmels willen!“, rief Ida zunehmend verzweifelt.
„Marie-Antoinette, komm zurück! Marie-Antoinette!“
„Wie konnte das denn passieren?“Philipp schnaufte.
„Sara, such das Mistvieh, mach schnell!“
„Natürlich!“
Das Dienstmädchen beugte sich leicht nach vorn und begann, sich hin und her schauend durch die Menschenmenge zu schieben.
Ida schlug sich eine Hand auf den Mund, ihre Augen glänzten.
„Ich helfe ihr“, entschied Josephine.
„Wegen dieser kläffenden Hausratte?“, flüsterte Fritz und verzog das Gesicht.
„Vorhin hat sie einen Grünrock angegriffen“, wisperte Josephine zurück. „Seitdem halte ich große Stücke auf sie.“
Fritz nickte. „Das ist natürlich ein Argument. In diesem Fall helfe ich ebenfalls.“
Karl schob den Brotlaib, den er gerade in der Steinstraße hatte ergattern können, unter seine Jacke. Die schäbige Bäckerei am Rande des Altstädter Gängeviertels wurde von zwei ungelernten jungen Kerlen betrieben, die versuchten, aus alten, manchmal verdorbenen Zutaten etwas Essbares herzustellen. Es war nicht das beste Brot, hart und sicherlich ungesalzen.
Eigentlich hatte Karl in der Bäckerei Thielemann nach Resten fragen wollen.
Dort verstand man wahrlich etwas von Brot und süßem Gebäck. Zwar wirkte sie von außen unscheinbar – wer durch die Rosenstraße lief, während das Geschäft geschlossen war, sah nur eine einfache Holztür, über der in schiefen und krummen Lettern Thielemanns Backhus stand. Doch wer zu den Öffnungszeiten daran vorbeispazierte, wurde beinahe magisch angezogen von dem wunderbaren Duft, der durch die weit geöffneten Fenster auf die Straße quoll, und dem Gelächter der Kunden, die sich in dem engen Raum drängten, um die frischen Köstlichkeiten zu erstehen. Zumindest war das so gewesen, bevor die Franzosen es den Hamburger Geschäftsleuten und auch den Schmugglern so verdammt schwer gemacht hatten … Bei diesem Gedanken schüttelte Karl missmutig den Kopf. Wie Annas Augen geleuchtet hätten, wenn sie das duftende, knusprige Thielemann-Brot gesehen hätte! Doch nach ihrem unfreiwilligen Zusammentreffen mit Philibert war die junge Bäckerin plötzlich verschwunden und hatte den Laden abgeschlossen, so dass er keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, sie zu fragen.
Nun lief er an der Reihe von schmalen, krummen Häusern entlang bis zur Springeltwiete, die zwischen eng stehenden, hier ausgebeulten, dort eingedrückten Steinwänden entlangführte. Auch wenn sie im Vergleich zu den vielen namenlosen Twieten des Gängeviertels noch relativ breit war, konnten hier keine zwei Menschen nebeneinanderstehen. Und wenn im ersten Stock beider Häuser gleichzeitig die Fenster geöffnet wurden, dann stießen die Läden gegeneinander. Je tiefer er in die Gasse vordrang, desto dunkler wurde es. Erst hinter den Vorderhäusern gab es wieder etwas mehr Licht. Die Twiete öffnete sich auf einen Hinterhof, der einst sicherlich weit und lichtdurchflutet gewesen war, in dem vielleicht Kinder gespielt und weiße Wäschestücke im Wind geweht hatten. Nun aber war er von zwei Reihen dichter, niedriger Bretterbuden verstellt. Aus den offenen Fenstern strömte ein muffiger Geruch. Mittlerweile war Karl den Gestank gewohnt, doch anfangs hatte er ihm noch den Magen herumgedreht.
Er musste wieder daran denken, wie Rosine, seine Großmutter, ihn etwa drei Monate nach der Belagerung Hamburgs hierher geführt hatte. „Ich habe ein Haus gekauft“, hatte sie verkündet. Sie war vorangegangen, hatte aber kaum durch die Gassen gepasst, da sie wie so oft dicke Rollen von Reisigbesen trug – für den Fall, dass sie irgendwo einen kurz entschlossenen Käufer fand.
Den einen Ballen vor der Brust, den anderen auf ihren Kopf gehoben, erweckte sie mit ihrem stolzen Gang und dem gereckten Hals den Eindruck, sie trage keine Reisigbesen, sondern vielmehr eine Reisigkrone.