Ein Gruppenverbrechen Minderjähriger wird zum Wahlkampfthema
In Österreich hat ein besonders abscheulicher Fall von sexuellem Missbrauch durch Jugendliche eine Debatte um die Herabsetzung der Strafmündigkeit ausgelöst
Wenn Wahlkampf ist und es um die Verkündung knackiger Botschaften geht, dann ist die kleinformatige Kronenzeitung das Medium der Wahl von Kanzler Karl Nehammer. Und diese Botschaft des Kanzlers, treffsicher serviert am Sonntag, hat es in sich: Das Alter für die Strafmündigkeit solle man senken. „Wir müssen schonungslos darüber sprechen, was falsch läuft und wo der Rechtsstaat nicht genügend Möglichkeiten bietet, einzuschreiten“, so Nehammer.
Delinquente Jugendliche könnten nicht ausreichend bestraft werden. Und, so der Kanzler weiter, wenn Kinder delinquent werden, dann müsse man auch überlegen, wie die Werkzeuge der Jugendwohlfahrt ein „stärkerer Hebel“sein könnten – de facto eine Drohung mit dem Entzug von Erziehungsverantwortung. Dem aber nicht genug: Man müsse auch darüber nachdenken, wie man die Eltern zur Haftung führen könne.
Verdächtige sind zwischen 13 und 18 Jahren alt
Diese Ansagen kommt nicht aus dem Nichts. Der Anlass ist ein besonders abscheulicher Fall von sexuellem Missbrauch in Wien, der in der Vorwoche bekannt wurde. Ein zum Tatzeitpunkt zwölf Jahre altes Mädchen soll von einer Gruppe Jugendlicher von Februar 2023 bis Juni 2023 unzählige Male sexuell missbraucht, vergewaltigt, dabei gefilmt und mit dem Material in weiterer Folge erpresst und gefügig gemacht worden sein. Zu den Handlungen sei es mehrmals pro Woche gekommen, hieß es – in einem Park, auf Toiletten, in Stiegenhäusern, Garagen, Wohnungen der Tatverdächtigen und in zumindest einem Fall auch einem Hotelzimmer. Der Tat verdächtigt werden in Summe 17 Jugendliche im Al
ter zwischen 13 und 18 Jahren. Nach österreichischem Recht gilt für sie das Jugendstrafrecht. Bis auf einen 16-Jährigen, der sich bei der Verhaftung widersetzte, wurden folglich auch alle auf freiem Fuß angezeigt. Weitere Ermittlungen laufen. Aber schon die bekannten Eckdaten bringen den anrollenden Wahlkampf zum Wallen. Während die Junioren in der Koalition, die Grünen, „Anlass-Gesetzgebung“strikt ablehnen, hat der Fall im rechten Lager der Republik wieder einmal einen Wettlauf um die härtere Linie entfacht. Kanzler Nehammer (ÖVP) hat seine Parteikollegen, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler und Innenminister Gerhard Karner, bereits angewiesen, ein Maßnahmenpaket zu erarbeiten.
Viel eher sollte in Prävention und die oft stiefmütterlich behandelte Jugendpsychiatrie investiert werden.
Bei Experten stößt das auf klare Ablehnung. Für „überhaupt nicht sinnvoll“hält etwa Thomas Marechek vom Verein Neustart die Idee einer Herabsetzung der Strafmündigkeit. Neustart kümmert sich im Auftrag des Justizministeriums um Bewährungshilfe. Also um genau das, was nach einer Haftstrafe passiert. Thomas Marechek sagt: Im Gefängnis lerne man, „wie man sich im Gefängnis zurecht findet – nicht mehr“. Und das sei absolut nicht das, „was man in einem Erwachsenenleben braucht, das frei von Kriminalität sein sollte“.
Eine stiefmütterlich behandelte Jugendpsychiatrie
Viel eher sollte in Prävention und die oft stiefmütterlich behandelte Jugendpsychiatrie investiert werden. Denn es sei bekannt, dass vor allem „die Jugendlichen Probleme machen, die diese Probleme selbst auch haben“. Das Strafrecht sei aber nicht die Lösung dieser Probleme. Dazu sei das Strafrecht nicht da. Zudem führe es am Ziel vorbei, Eltern zu belangen, die vielleicht ohnehin ein Problem hätten, Zugang zu ihrem Kind zu erhalten.
Die politische Debatte verzerrt zudem das Gesamtbild. Denn während in der öffentlichen Wahrnehmung Jugendkriminalität exorbitant zunimmt, zeigt die Zahl der Verurteilungen wegen Gewaltdelikten genau das Gegenteil. Was allerdings steigt, ist die Zahl der Anzeigen. Die Gründe dafür: Eine höhere Bereitschaft zur Anzeige und vor allem auch der Umstand, dass Kinder viel öfter mit Wertgegenständen unterwegs seien, wie Thomas Marechek sagt: „Wenn früher in einem Streit ein Federpenal (eine Federmappe, Anm. d. R.) ruiniert wurde, so ist das heute oft ein Telefon um 700 Euro.“Und noch ein Faktor ist, was den Anstieg der Anzeigen angeht: Eine vom heutigen FPÖ-Chef Herbert Kickl in dessen Zeit als Innenminister (2017 – 2019) eingeführte neue Zählweise nach Delikten und nicht nach Delinquenten.
Kickl ist nach wie vor der Elefant im Raum: Der FPÖ steht nach aktuellem Umfragestand ein haushoher Wahlsieg (um die 30 Prozent) bevor. Kickl warf Nehammer jetzt vor, „Kopiermaschine freiheitlicher Positionen“zu sein. In dieser Tonalität geht es weiter: Zugleich sprach Kickl von einem „Multikulti-Verbrechen“und einer Gefährdung der Bevölkerung durch „kulturfremde Personen“. Die Tatverdächtigen sind österreichische, syrische und türkische Staatsbürger. In Boulevardmedien ist nur mehr von „17 Migranten“die Rede.