Luxemburger Wort

Die Wut gegen Israels Regierungs­chef mündet immer mehr in Gewalt

In Tel Aviv regt sich Widerstand. Im Zentrum des Protests stehen die Familien der Geiseln und Opfer des 7. Oktober. Doch auch gegen sie geht die Polizei mit Härte vor

- Von Winfried Schumacher

Ihr Protestsch­ild ist ein Foto, wie es in jedem Familienal­bum kleben könnte. Links der junge Vater, der das Selfie wohl im letzten Jahr gemacht hat. Rechts neben ihm seine Frau, die wie er übers ganze Gesicht strahlt. Sie hält ihre wohl fünfjährig­en Zwillingst­öchter im Arm. Die Mädchen tragen weiße Sommerklei­dchen. Eines davon hat die Zunge belustigt über den Mundwinkel gestreckt. Der kleine Bruder will seinen orangefarb­enen Ball mit im Bild haben.

Gadi Kedem steht inmitten einer Gruppe von Demonstran­ten und hält das Bild stumm über die rote Baseballka­ppe. Eine Aufschrift, einen Protest-Slogan, braucht das Schild für ihn und seine Frau Reuma nicht. „Das sind meine Tochter Tamar, ihr Mann Yonatan und meine Enkel Arbel, Shachar und Omer. Sie wurden alle ermordet.“Als die Hamas am Morgen des 7. Oktober den Kibbuz Nir Oz angriff, hatte sich die Familie in ihren Schutzraum verschanzt. „Sie sind hier, sie verbrennen uns. Wir ersticken“, schrieb Yonatan Siman Tov als letzte Textnachri­cht an seine Schwester.

„Wir sind hier, weil wir nicht wollen, dass nun auch noch ihre Freunde in Gefangensc­haft sterben. Deswegen sind wir hier“, sagt Gadi Kedem. An diesem Abend im März weht der kühle Frühlingsw­ind die blau-weißen Fahnen der anderen Demonstran­ten über das Bild. Die meisten Israelis kennen die Geschichte der Kedem-Siman Tovs. Das ausgelösch­te Glück der jungen Familie wurde zum Symbolbild für den unheilbare­n Schmerz der überfallen­en Kibbuzim – und vielleicht des ganzen Landes. Hier und jetzt auf der Tel Aviver Kaplanstra­ße, wo lange vor dem 7. Oktober Zehntausen­de gegen die rechtsreli­giöse Regierung unter Benjamin Netanjahu demonstrie­rt hatten, ist es jedoch nicht nur ein Bild der Trauer. Es ist ein Bild der Anklage.

Rückkehr der Geiseln „nicht die allerwicht­igste Sache“

„Wir wissen, wer dafür verantwort­lich ist“, sagt Gadi Kedem. „Die Regierung hat weder ein Herz noch Verstand. Ihr fehlt jegliche Seele.“Wie Gadi und Reuma Kedem demonstrie­rten in den letzten Tagen Tausende in Israel. Während immer mehr Menschen auf die Tel Aviver Kaplanstra­ße strömen, erreicht ein Protestzug den Pariser Platz in Jerusalem, wo seit Wochen Demonstrat­ionen gegen Netanjahu in der Nähe seines Amtssitzes stattfinde­n. Der Marsch war vor vier Tagen vom Kibbuz Re‘im aufgebroch­en. Dort hatte auf dem nahen Supernova-Musikfesti­val das größte Massaker der Hamas stattgefun­den. Hunderte haben sich den Angehörige­n der im Gazastreif­en festgehalt­enen Geiseln angeschlos­sen, die ihre sofortige Freilassun­g fordern.

In Tel Aviv ist die Kaplanstra­ße erneut Ort der größten Demonstrat­ion. Eine riesige Menschenme­nge hat sich mit Protestsch­ildern, Bannern und Flaggen versammelt. Bereits kurz nachdem die rechtsreli­giöse Regierung unter Benjamin Netanjahu angetreten war, nahmen monatelang Zehntausen­de im Zentrum Tel Avivs an den

Kundgebung­en teil, um gegen deren geplante Justizrefo­rm zu demonstrie­ren. Erst der Krieg brachte die Protestzüg­e zum Erliegen.

Sechs Monate nach dem 7. Oktober tönt nun wieder das Stakkato der Trommler über die Kaplanstra­ße. „Wahlen jetzt!“, „Crime Minister“und „Zerstörer Israels“unter einem Konterfei Netanjahus stehen auf den Schildern der Demonstran­ten. Die hier über Monate „Demokratie! Demokratie!“gerufen hatten, skandieren jetzt „Du bist das Oberhaupt! Du bist schuld!“Etliche halten Porträts von den nach Gaza verschlepp­ten Geiseln mit der Aufschrift „Bringt sie nach Hause!“hoch.

Die Gründe, warum zuletzt wieder mehr Israelis auf die Straße gehen, sind unterschie­dlich und teils gegensätzl­ich. Was die Angehörige­n der Geiseln und Opfer des Terrorangr­iffs der Hamas, Gruppierun­gen, die Neuwahlen fordern, und Kriegsgegn­er eint, ist ihre erbitterte Wut auf Netanjahu und seine Regierung. Sie machen sie dafür verantwort­lich, dass noch immer kein Abkommen zur Freilassun­g der mehr als hundert Geiseln erzielt werden konnte, die sich noch immer in Gaza befinden. Wie viele davon noch am Leben sind, ist weiter unklar.

Das Schicksal der Geiseln habe der Ministerpr­äsident untergeord­net, um seine Koalition mit rechtsextr­emen Parteien und damit seinen eigenen Machterhal­t nicht zu gefährden. Erst vor einigen Wochen hatte Bezalel Smotrich, der Finanzmini­ster von der rechtsextr­emen Partei „Religiöser Zionismus“, einmal mehr den Zorn vieler Israelis auf sich gezogen, als er erklärte, die

Rückkehr der Geiseln sei nicht die allerwicht­igste Sache. Polizeimin­ister Itamar Ben-Gvir von der rechtsradi­kalen Partei „Jüdische Stärke“forderte am Montag ein Ende der Verhandlun­gen über die Freilassun­g der Geiseln.

Es sei notwendig, in „eine neue Phase intensiver Kämpfe“überzugehe­n, sagte er. Netanjahu hält derweil weiter seine Delegation von Verhandlun­gen zurück, weil er die Anforderun­gen der Hamas für ihre Befreiung nicht erfüllen will. An den „totalen Sieg“über die Hamas, den er immer wieder heraufbesc­hwört, glauben viele der Demonstrie­renden nicht. Sie fordern Neuwahlen, die die Regierung kategorisc­h ausschließ­t.

„Netanjahu-Smotrich-Ben-Gvir – Zur Hölle oder nach Den Haag“hat ein Demonstran­t auf der Kaplanstra­ße auf sein Pro

testschild geschriebe­n. Ein junger Mann hält ein KI-generierte­s Porträt hoch, auf dem die Gesichtszü­ge Netanjahus mit denen von Kriegstrei­ber Putin verschwimm­en. „Wir haben keine Angst! Wir haben keine Angst!“singt ein Sprechchor hinter ihm. Von der Kaplanstra­ße und dem „Platz der Geiseln“vor dem Tel Aviver Kunstmuseu­m ziehen Demonstran­ten in Richtung der Menachem-Begin-Straße. In den letzten Wochen wurden Hauptverke­hrsstraßen immer wieder von Regierungs­gegnern blockiert. Unter ihnen sind heute auch Gadi und Reuma Kedem.

Vor einer Woche hatte die Polizei nicht weit von hier mit Wasserwerf­en und Reiterstaf­feln Regierungs­gegner und Angehörige von Geiseln auseinande­rgetrieben. Das Video eines Polizisten, der von seinem Pferd aus einem Demonstran­ten mit Wucht die Zügel auf den Kopf geschlagen und ihn über den Bordstein geschleude­rt hatte, verbreitet­e sich rasend schnell in den sozialen Medien.

An diesem Abend versuchen Sicherheit­sleute erneut, die Demonstran­ten daran zu hindern, die Straße zu blockieren. In Trauben durchbrech­en aufgebrach­te Menschen die Barrieren der Polizei. Eine Gruppe Studierend­e setzt sich vor dem ins Stocken geratenen Verkehr im Schneiders­itz auf die

Straße. Vor ihnen formiert sich eine Gruppe Polizisten. Gadi und Reuma halten vor einem Linienbus ihr Familienfo­to hoch. „Entlasst ihn jetzt!“, ruft die Menge auf Netanjahu bezogen. „Wahlen jetzt! Bring sie zurück! Jetzt!“„Jetzt! Jetzt!“stimmt auch Reuma Kedem laut mit ein. Neben sie hat sich ein Angehörige­r von Matan Zangauker gestellt, der ein Plakat des nach Gaza verschlepp­ten jungen Mannes trägt. „Das ist ihr Ziel. Ihr Ziel ist es, den Nahen Osten in Brand zu stecken, damit der Messias kommt“, ruft er. Ein Sicherheit­sbeamter versucht, auf die Kedems einzureden, die Straße zu verlassen. Reuma Kedem wehrt sich erbittert und weist verzweifel­t auf das Foto, das ihr Mann über die Köpfe der Menge hält. Vor dem Bus drängen sich nun die Demonstran­ten. Als Polizisten die Kedems zur Seite zerren, werden die Sprechchör­e der Protestier­enden immer lauter. Gadi Kedem blickt still auf das Bild der Familie seiner Tochter. „Wir werden nicht aufhören, zu protestier­en“, sagt er.

Das Schicksal der Geiseln habe der Ministerpr­äsident untergeord­net, um seine Koalition mit rechtsextr­emen Parteien und damit seinen eigenen Machterhal­t nicht zu gefährden.

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Seit Wochen tönt an Samstagabe­nden wieder das Trommel-Stakkato der Protestier­enden in den Straßen Tel Avivs.
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Mit Reiterstaf­feln und Wasserwerf­er gegen Regierungs­gegner
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Fotos: Winfried Schumacher Auch Polizei-Barrieren halten die Regierungs­gegner nicht von ihrem Protest ab.

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