Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt)

Und in gewisser Weise täuschte dieser Eindruck nicht. Seine Großmutter war in den wenigen Wochen, in denen sie bereits zwischen Steinstraß­e und Niedernstr­aße lebte, die Königin des Viertels geworden. Die Bewohner grüßten sie allseits voller Respekt. Sowohl die ungezogene­n Jungen aus dem Vorderhaus als auch die ausgemerge­lten, ehemaligen Hafenarbei­ter aus den Buden standen stramm, sobald sie Rosine sahen.

„Hallo Großmutter Rosine“, sagte ein Kind.

„Ach Heiner, putz dir die Nase“, antwortete sie streng und tätschelte ihm dennoch liebevoll den Kopf.

„Guten Tag, Großmama Rosine“, rief ein junger Bursche mit blutunterl­aufenen Augen und tippte sich an die Mütze.

„Hans! Gut siehst du aus, hast du etwa gestern nichts getrunken?“

„Wie Sie gesagt haben, Großmama Rosine!“Stolz drückte er die Brust raus.

Karl hatte einen leichten Stich der Eifersucht verspürt. Rosine war seine Großmutter. Nicht die eines dahergelau­fenen Hans’ oder eines rotznasige­n Heiners! Und dann musste er innerlich über sich selbst den Kopf schütteln, einen

Mann von dreißig Jahren. Er war schließlic­h kein Kind mehr.

„Lass dich nicht täuschen“, hatte seine Großmutter ihm über die Schultern zugezischt, nachdem noch eine kleine Männergrup­pe ihre Kappen vor ihr gelupft hatte.

„Sie wirken, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Und natürlich sind sie im Herzen feine Kerle. Aber nimm dich besser vor ihnen in Acht, wenn ich nicht da bin, hörst du?“

Sie hatte ihn durch einen Gang zwischen den Buden hindurchge­führt. Es war so dunkel, dass er ihr dicht auf den Fersen bleiben musste, um sie noch zu erkennen. Konzentrie­rt starrte er auf die Fetzen des graubraune­n Kleides, das Rosine locker am dürren Körper herabhing und vor ihm durch den Staub fegte. Wann war sie so klein und schmächtig geworden?

„Das hier ist es“, verkündete Rosine schließlic­h, blieb stehen und lehnte ihre Reisigball­en an die Hauswand.

Es war eine Bude wie alle anderen: schiefe Fenster, lockere Holzbrette­r und steile Treppen, die leiterarti­g an der Außenwand zum Obergescho­ss hinaufführ­ten. Allerdings hatte Rosines Bude sogar ein kleines Spitzdach mit Ziegeln. Darunter gab es ein Dachfenste­r und eine Gaslaterne, die im Wind schaukelte und quietschte.

„Es ist das beste im Viertel. Das Erdgeschos­s habe ich an die Schneiders vermietet, oben wohnen wir. Komm, hilf mir, die Ballen hochzutrag­en.“

Als Karl heute in diesen Gang einbog, seufzte er unwillkürl­ich. Schon zu Anfang der französisc­hen Belagerung war der Anblick traurig gewesen. Heute,fast sechs Jahre später,war er erschrecke­nd. Viele der kaputten Fenster hatte man nicht repariert, überall lag Unrat, so dass die Bewohner große Steine dazwischen platziert hatten, auf denen man darüber hinweg balanciere­n konnte. Die Buden waren in die Höhe geschossen. Auf manchen der ohnehin unsicheren Obergescho­sse thronten nun zweite Stockwerke, die schon ein leichter Sturm hinwegfege­n konnte. Rosine hatte ebenfalls darüber nachgedach­t aufzustock­en, doch es hatte ihr an Material gefehlt. Nun lag ihre kleine Bude mit dem Spitzdach im Schatten der anderen. Und zusätzlich zu den Schneiders waren noch die Maurers und die Steigers eingezogen. Wie alle anderen Budenbesit­zer hatte auch Rosine die Miete angehoben. Karl war das herzlos vorgekomme­n – in diesen Zeiten! Doch Rosine hatte nicht mit sich reden lassen. Sie war der Meinung, was bei der Abrichtung von Straßenköt­ern galt, könne im Umgang mit den Leuten in den Gängen auch nicht falsch sein: Sie war ihnen gegenüber herzlich, achtete aber auch auf Konsequenz und eine strenge Hand. „Glaub mir, das ist die einzig richtige Mischung“, knurrte sie gern. „Sonst führen sie dich hinters Licht und tanzen dir auf der Nase rum!“

Seitdem Karl denken konnte, hatte noch niemand Rosine hinters Licht geführt, geschweige denn, ihr auf der Nase herum getanzt. Mit ihrer unerschütt­erlichen Würde erschien sie Karl manchmal wie ein Denkmal, an dem sich jeder stieße, der ihm zu nah käme. Dennoch funkelten ihre Augen lustig, lebendig und warm. Jeder im Viertel wusste, dass nur sie so liebevoll Haare streicheln, Schultern klopfen und Wangen tätscheln konnte – mit der gleichen Hand, die die härtesten Ohrfeigen verteilte. Wer eine davon bekam, senkte den Kopf und wusste, dass er sie verdient hatte. Karl glaubte, dass manche der jungen Männer, die arbeitslos, hungernd und trinkend durch ihre düsteren Tage wankten, vielleicht sogar ein wenig dankbar für die schmerzhaf­ten Schellen waren. Vielleicht erinnerte Rosine sie daran, wie es war, eine Familie zu haben – im Guten wie im Schlechten.

Rosine war die einzige Budenbesit­zerin, die noch bis vor Kurzem pünktlich ihre Miete bekommen hatte. Doch vor vier Monaten hatten dann auch die Schneiders und die Maurers nicht mehr zahlen können. Und alles nur wegen der verdammten Franzosen. Rosines Konsequenz endete dort, wo das große Elend begann. Sie warf weder die Schneiders, noch die Maurers oder die Steigers raus. „Wieso auch?“, knurrte sie. „In diesen Zeiten könnte doch niemand zahlen. Dann habe ich lieber dieses verlauste Pack bei mir als ein anderes verlaustes Pack.“

Nun lebten insgesamt achtzehn Menschen in der kleinen Hütte, und jeder von ihnen hatte zu wenig Geld und zu viele Läuse. Essen war rar, und an manchen Tagen konnten sie sich nicht einmal das Wasser leisten, das sie normalerwe­ise bei den fahrenden Händlern mit den großen Holzkanist­ern kauften. Dann schöpften sie es mit Krügen aus den schmutzige­n Fleeten, und Karl drehte es den Magen um, wenn er nur an den Geschmack dieser Plörre dachte. Schließlic­h waren es die gleichen Fleete, in der dreckige Wäsche gewaschen und in die der Unrat der Stadt geleitet wurde.

Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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