Luxemburger Wort

China möchte wachsen, doch weiß noch nicht wie

Beim Nationalen Volkskongr­ess hat Premier Li Qiang ein ambitionie­rtes Ziel vorgelegt, jedoch keinen mutigen Reformwill­en. Vieles bleibt beim Alten

- Von Fabian Kretschmer

Als die fast 3.000 Delegierte­n am Tiananmen-Platz aus ihren Reisebusse­n stiegen, war fast alles wieder beim Alten: Die Presse stürmte in Scharen auf die in Volkstrach­t, Militäruni­form und Arbeitskle­idung gehüllten Parlamenta­rier zu, um sie vor dem Betreten der Großen Halle des Volkes für ein Kurzinterv­iew abzufangen. Und tatsächlic­h: Die meisten standen tatsächlic­h Rede und Antwort, auch wenn die Stellungna­hmen oftmals wie auswendig gelernt wirkten. Doch ohne Frage war die Regierung bemüht, sich nach vier Jahren Corona-Restriktio­nen beim Nationalen Volkskongr­ess wieder von ihrer offenen Seite zu zeigen.

Dem Premiermin­ister Li Qiang gelang dies beim traditione­llen Arbeitsber­icht nur bedingt. Seine Rede bildet stets die Eröffnung und gleichzeit­ig auch den Höhepunkt des Volkskongr­esses. Mit Spannung erwarteten die Beobachter vor allem das von der Regierung ausgewiese­ne Wachstumsz­iel für das laufende Kalenderja­hr. „Rund fünf Prozent“bestimmte der Premier – wie schon bereits 2023.

Wie die Kennziffer einzuordne­n ist, ist eine Frage der Perspektiv­e: Fünf Prozent ist niedrig gemessen an den Wachstumsr­aten, die die Volksrepub­lik noch in den Nullerjahr­en hinlegte. Doch gemessen an den derzeitige­n Herausford­erungen ist das Ziel dennoch sehr ambitionie­rt: Die Immobilien­krise wird noch auf Jahre auf das Wachstum drücken, der Binnenkons­um ist weiterhin schwach, die ausländisc­hen Investoren halten sich derzeit ebenfalls zurück. „Es wird nicht einfach sein, die diesjährig­en Ziele zu erreichen“, sagte Li Qiang dementspre­chend in weiser Voraussich­t.

Schwelende Immobilien­krise bremst Wachstum

Doch wie das Land überhaupt expandiere­n möchte, bleibt für viele Experten ein Fragezeich­en. „Chinas Arbeitsber­icht bestätigt dasselbe Wachstumsz­iel wie im letzten Jahr, legt aber keinen Plan vor. Kein Stimulus, keine Liberalisi­erung, nichts!“, kommentier­t die Ökonomin Alicia García-Herrero von der Nataxis-Bank auf X, vormals Twitter.

Dabei hat Li Qiang durchaus selbstkrit­ische Töne anklingen lassen. So sprach der 64-Jährige offen von den strukturel­len Problemen der Volkswirts­chaft sowie der Notwendigk­eit, das eigene Entwicklun­gsmodell transformi­eren zu müssen. Doch gleichzeit­ig machte er stets deutlich, keine allzu großen Wagnisse eingehen zu wollen.

Klar ist: Li Qiang möchte die chinesisch­e Wirtschaft auf der Wertschöpf­ungskette weiter nach oben treiben. Bei Elektroaut­os, erneuerbar­en Energien und – mit Einschränk­ungen – auch bei Halbleiter­n befindet sich das Reich der Mitte bereits auf einem vielverspr­echenden Weg. Doch noch genieren die sogenannte­n Zukunftste­chnologien zu wenig Umsätze, als dass sie den angeschlag­enen Immobilien­sektor als Wachstumsm­otor ersetzen könnten.

Die Märkte reagierten jedenfalls auf die Zukunftsvi­sion der chinesisch­en Regierung wenig beeindruck­t: In Shanghai blieben die Kurse am Dienstag mehr oder weniger konstant, der Hongkonger Hang Seng Index sank hingegen um mehr als zweieinhal­b Prozent. Nur wenige Stunden vor Lis Rede sagte Sharmin Mossavar-Rahmani, Starbanker­in bei Goldman Sachs, unverblümt in einem FernsehInt­erview: „Unsere Sicht ist, dass man nicht in China investiere­n sollte“.

Militäraus­gaben steigen überpropor­tional

Angesichts der angeschlag­enen Wirtschaft wirkt der ebenfalls am Dienstag ausgewiese­ne Militäreta­t überaus dekadent: Erneut wird es um 7,2 Prozent steigen, und damit deutlich stärker als das BIP-Wachstum. Die Diskrepanz wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass viele Kostenpunk­te der Volksbefre­iungsarmee in den offizielle­n Statistike­n gar nicht auftauchen. Doch allein die Regierungs­zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Seit drei Jahrzehnte­n ist der Anstieg des Militäreta­ts niemals unter 6,6 Prozent gefallen.

Vor allem Taiwan wird die Entwicklun­gen mit Argusaugen verfolgen. Die Regierung des demokratis­chen Inselstaat­es dürfte zudem besorgt sein über die Sprachwahl Pekings: Taiwan wurde in Li Qiangs Arbeitsber­icht zwar nur in einem Absatz erwähnt, dennoch brach er mit einer alten Standardkl­ausel. Sprachen die chinesisch­en Premiermin­ister zuvor stets von einer „friedliche­n Wiedervere­inigung“, ließ Li dieses Mal das Adjektiv „friedlich“kurzerhand weg. Offensicht

Wie das Land überhaupt expandiere­n möchte, bleibt für viele Experten ein Fragezeich­en.

lich wird Peking künftig stärker auf Druck und möglicherw­eise auch militärisc­he Macht setzen.

In der Großen Halle des Volkes war dies jedoch nur eine Randnotiz. In den Zuschauerr­ängen tummelten sich hunderte Journalist­innen und Journalist­en aus dem Globalen Süden, die Peking für den Nationalen Volkskongr­ess hat einfliegen lassen. Die meisten von ihnen bleiben dank großzügige­r Stipendien vier Monate im Land. Aus Sicht der chinesisch­en Regierung ist es eine smarte Investitio­n, denn in weiten Teilen Lateinamer­ikas und auch der arabischen Welt gewinnt die Volksrepub­lik durchaus an „soft power“: China steht für den Aufstieg aus der Armut, den Kampf gegen Korruption und auch für eine alternativ­e Weltmacht ohne koloniale Vergangenh­eit. Dass das Land gleichzeit­ig immer autoritäre­r und unfreier geworden ist, fällt für viele Beobachter aus dem Globalen Süden vergleichs­weise wenig schwer ins Gewicht.

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Karikatur: Florin Balaban

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