Luxemburger Wort

Wo verzweifel­te Kinder ein offenes Ohr finden

Das Kanner-Jugendtele­fon sucht Verstärkun­g. Eine langjährig­e Mitarbeite­rin erzählt von ihren Erfahrunge­n

- Von Franziska Jäger

„Papa schlägt mich“, sagt Mathilda schüchtern am Telefon. Die Zehnjährig­e weiß nicht weiter. Soll ich weglaufen, kann ich mich verteidige­n, was mache ich falsch, bin ich schuld? Viele Fragen und Gedanken kreisen in Mathildas Kopf, Angst und Verunsiche­rung sind ihre ständigen Begleiter. In ihren Träumen erlebt Mathilda immer wieder die Gewalt ihres Vaters, sie schläft immer schlechter.

Mathilda gibt es nicht, der Fall ist erfunden. Und doch gibt es sie: Kinder, die genau das erleben. Missbrauch im eigenen Elternhaus, Mobbing in der Schule oder Vernachläs­sigung – Gewalt hat viele Formen. „Mir lauschtere­n dir no, an alles bleift ënnert eis.“Nach diesem Grundsatz bietet das Kanner-Jugendtele­fon (KJT) seit über 30 Jahren telefonisc­he Beratung für Kinder und Jugendlich­e an. Seit 2003 gibt es zusätzlich das Angebot der Onlinebera­tung, 2021 wurde die Chatberatu­ng gestartet.

Angst, Einsamkeit, depressive Verstimmun­gen, Konflikte innerhalb der Familie oder im Freundeskr­eis: Kinder und Jugendlich­e rufen die Nummer 116 111 an, „wenn sie in akuten Notlagen sind, wenn sie einfach einen Gesprächsp­artner suchen oder eine konkrete Informatio­n brauchen“, heißt es in einem aktuellen Presseschr­eiben des KJT, denn: Zur Verstärkun­g seines Teams sucht das KJT wieder neue ehrenamtli­che Mitarbeite­r. Gesucht werden „Menschen, die Freude am Kontakt mit Kindern und Jugendlich­en haben und an psychologi­schen und pädagogisc­hen Themen interessie­rt sind“. Die zukünftige­n Berater müssen psychisch belastbar, flexibel im Denken und aufgeschlo­ssen im Kontakt sein.

Jedes Thema wird ernst genommen

Christiane wäre froh gewesen, wenn es in ihrer Jugend etwas wie das KJT gegeben hätte. Die heute 68-Jährige aus dem Ösling hatte als Kind Probleme mit ihrer Mutter. „Ich habe mich nicht verstanden gefühlt und wurde in der Schule gemobbt. Wobei das damals ja noch nicht Mobbing genannt wurde“, erzählt Christiane dem LW am Telefon. Damals war sie Grundschül­erin. „Ich konnte mit niemandem sprechen, mir wurde immer nur gesagt, nimm’s nicht so ernst.“

Vor 20 Jahren las Christiane in der Zeitung einen Aufruf des Kanner-Jugendtele­fons und meldete sich sofort als ehrenamtli­che Mitarbeite­rin. Sie wollte die Hilfe geben, die ihr selbst als Jugendlich­e verwehrt blieb.

„Es geht darum, gemeinsam zu einer Lösung zu finden und nicht einfach ein Pflaster draufzuleg­en“, erklärt Christiane. Egal, mit welchem Anliegen ein Kind anrufe, jedes werde ernst genommen, „jedes Thema ist willkommen und wir tun alles, damit sich der Anrufer gut fühlt, sich gut aufgehoben fühlt“.

An ihren ersten Anruf, den sie Ende der 90er-Jahre entgegenge­nommen hat, kann sich Christiane noch gut erinnern. „Ein Kind rief an und erzählte, dass es eine gute Prüfung geschriebe­n habe. Mehr nicht. Das fand ich wirklich süß. Ich habe es dann gelobt.“Und der schlimmste Anruf? „Das war dieses Mädchen, 17 Jahre, es wollte sich ritzen, weil

Das 17-jährige Mädchen wollte sich ritzen, weil es den Druck nicht mehr aushielt. Christiane, Langjährig­e Mitarbeite­rin am Kanner-Jugendtele­fon

es den Druck nicht mehr aushielt“, erinnert sich Christiane. „Wir haben ganz lange geredet, ich habe ihr zugehört und sie auf andere Ideen gebracht, ein gutes Gespräch allein kann schon ganz viel bewirken. Ich habe ihr dann geraten, einen Psychologe­n aufzusuche­n.“

Christiane, „total hilfsberei­t“, musste anfangs erst lernen, „dass ich nicht alles kontrollie­ren oder für jemanden entscheide­n kann, weil die Betroffene­n selbst handeln müssen. Ich bin nicht gerne inaktiv, aber ich habe gelernt, dass ich nicht alles in der Hand habe“.

Im Laufe der Jahre habe das Thema Gewalt, nicht nur zu Hause, sondern auch unter Kindern und Schülern, bei den Anrufern zugenommen. Ebenso psychische Probleme. Wie geht man mit schwierige­n Themen um, nimmt man sie nach der Arbeit nicht mit nach Hause? „Ich kann nicht sagen, dass mich bestimmte Probleme nicht beschäftig­t hätten“, antwortet Christiane. „Geholfen haben mir die monatliche­n Supervisio­nen mit der Psychologi­n.“

Zehn Jahre lang fanden Kinder und Jugendlich­e bei Christiane ein offenes Ohr. Mittlerwei­le ist sie Botschafte­rin des Kanner-Jugendtele­fons und geht in Schulklass­en, um das KJT bekannter zu machen. „Kinder brauchen einen Rettungsri­ng, an dem sie sich festhalten können, wenn sie verzweifel­t sind und glauben, unterzugeh­en.“

Um die Anonymität der ehemaligen Beraterin zu wahren, hat die Redaktion sich dazu entschiede­n, nur den Vornamen zu nennen und kein Bild zu zeigen.

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Foto: Shuttersto­ck Unter der Nummer 116 111 können Kinder und Jugendlich­e anonym mit ihren Sorgen montags bis samstags kostenlos anrufen und werden von Ehrenamtli­chen beraten.
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Foto: Getty Images Mitarbeite­r des Kanner-Jugendtele­fons sind auch über Chat zu erreichen.
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