Der Duft von Zimt
17
Langsam ging Karl nun auf Rosines niedrige Hütte zu, darauf bedacht, nicht neben die Gehsteine zu treten.
Aus den Fenstern zu beiden Seiten hingen Lumpen, die nach Fleet stanken, und die Gestalten, die an den Türrahmen lehnten oder auf den Holztreppen saßen, taten so, als wären sie in unbedarfte Gespräche vertieft.
Doch wer genau hin hörte, bemerkte, dass sie noch öfter fluchten als sonst, noch häufiger ausspuckten und sich heftiger die juckende Haut kratzten. Karl verbarg seinen Laib etwas tiefer in der Jacke. Er würde teilen – er teilte ja immer –, aber zuerst mussten Anna und Rosine essen.
Es gab Tage, an denen er die Nachbarschaft in den Gängen beinahe genoss. Dann scherzte er mit dem fast zahnlosen Andreas, zwinkerte dem winzigen Johann zu, der mit seinen sieben Jahren erwachsener war als sein Vater, den die Syphilis schon seit Jahren in den Wahnsinn trieb, oder er neckte Juliana, eine blutjunge Witwe, die hell und laut lachen konnte, aber noch lauter tobte, wenn einer ihrer Freier zu wenig zahlte.
Heute hatte er auf nichts davon Lust. Der Tag war besonders anstrengend gewesen, ihm taten die Knochen weh, und er grübelte darüber nach, ob er das Richtige getan hatte. Was, wenn jemand die Kuh bei Louise entdeckte? Die Vorstellung, sie könnte für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden, ließ ihn unwillkürlich die Fäuste ballen. Dafür hatte er Louise zu gern – ihre laute Stimme, in der eine Unbekümmertheit lag, die man in Hamburg nur selten hörte, ihre Augenbrauen, die ständig in Bewegung waren, und diese Oberlippe, die so herausfordernd vorstand … Schnell schüttelte er die Gedanken an Louise ab. Er machte sich nur unglücklich. Was könnte er ihr schon bieten? Er besaß die Reste seiner Schute und eine schmale, muffige Matratze im Gängeviertel zwischen der laut schnarchenden Anna und der hin und wieder im Traum grunzenden Rosine – sonst nichts. Er hatte keine Ersparnisse, keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und nun hatte er ihr auch noch diese Kuh aufgehalst. Aber er hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Die Kuh könnte tatsächlich ihre Rettung sein, und in den Gängen gab es nirgends eine ungenutzte Ecke, in der er sie hätte unterbringen können – wenn sie überhaupt durch die schmalen Gassen gepasst hätte. Bei Louise hingegen war Platz. In das Haus einer Witwe, in dem sonst niemand als eine Hausdienerin wohnte, schickten noch nicht einmal die Franzosen einen Trupp Soldaten. Und im Vergleich zu den Buden in den Gängen war ihr
Haus ein wahrer Palast. Karl wüsste gar nicht, was mit so vielen Räumen anzufangen wäre. Er mochte es klein und überschaubar, mit Blick zur Tür – schließlich war er sowieso meistens unterwegs. Auch wenn das nicht immer so gewesen war …
„Na endlich.“Plötzlich stand seine Großmutter vor ihm und riss ihn aus seinen düsteren Grübeleien. Ein paar Haarsträhnen lugten aus ihrem fest unterm Kinn verknoteten Kopftuch hervor, und ihr lang gezogener Mund, der stets entschlossen und zugleich auf ironische Weise amüsiert nach unten strebte, zuckte, während sie ihn betrachtete. „Anna wartet schon seit Stunden auf dich.“
„Ist etwas passiert?“
In dem Moment flog die klapprige Tür auf, und Anna stürmte heraus. Ihre dunklen langen Haare schienen noch verknoteter als sonst, und die Brauen, die in zwei perfekten Halbkreisen über ihren Augen lagen, schossen bei seinem Anblick aufgeregt in die Höhe.
„Karl, Karl! Wir haben einen Brief bekommen, auf dem Grasbrook! Du hast doch gesagt, wir sollten uns bei jedem Feuer außerhalb der Stadttore bereithalten, aber du warst fort, und da bin ich allein hingelaufen.“
Normalerweise genoss Karl die lebhaften Wortergüsse der Kleinen, doch diesmal war er abgelenkt.
„Was zum Teufel ist das da?“, brummte er und zeigte auf das Wollknäuel in ihrem Arm. Es war weiß, zappelte leicht und hatte zwei schwarze, aufmerksame Augen.
Anna streichelte das kleine Hündchen, das sofort mit dem Zappeln aufhörte. „Sie ist mir auf dem Grasbrook zugelaufen. Also behalte ich sie!“
Entgeistert starrte Karl sie an. „Anna, wir können keinen Hund behalten! Wenn wir auch nur einen Brocken Hundefutter hätten, müssten wir ihn selbst essen, das weißt du doch.“
„Ach, Carla wird sich ihr Futter schon suchen – oder verdienen.“
Karl klappte der Mund auf. „Carla?“
Anna grinste und entblößte ihre zu groß geratenen Schneidezähne. „Ja! Ich habe sie nach dir benannt, wie findest du das?“
Karl stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief.
„Du kannst gern alles Mögliche nach mir benennen. Einen mächtigen Ochsen zum Beispiel. Oder einen prächtigen Rappen. Von mir aus auch einen Köter – wenn er groß ist und gefährlich knurren kann. Aber keinesfalls dieses Wollknäuel!“
„Aber guck doch mal in ihre Augen. Die sind genauso gutherzig wie deine. Und ihre Pfoten! Du hast auch oft dreckige Füße.“
Sie hatte ein Beinchen des Hundes in die Hand genommen, hob es vorsichtig in die Höhe und präsentierte Karl die schmutzverkrustete, lederne Unterseite.
Karl wollte nicht lachen, doch er konnte sich kaum zurückhalten. In gespieltem Ernst sagte er: „Ich habe höchstens solche Krallen. Und damit kitzele ich dich gleich durch, wenn du nicht aufhörst.“
Er trat einen Schritt auf sie zu, doch sofort fing Carla ein so ohrenbetäubendes und tiefes Gekläffe an, dass er erschrocken zurückwich. Das Bellen erstarb wieder, doch nun zeigte Carla ihm die Zähne. Anerkennend nickte Karl. „Na gut“, brummte er. „Vielleicht ist das Vieh gar nicht so unbrauchbar, wie ich dachte.“
Anna strahlte.
Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7