Protest-Architektur: Barrikaden, Camps, Sekundenkleber
Öffentlicher Raum als Bühne des Protests
Sie können politisch links oder rechts stehen, es kann ihnen um politische Freiheiten und Reformen, um soziale Gerechtigkeit oder Umweltschutz gehen, aber in der Wahl ihrer Mittel weisen Protestbewegungen oft große Ähnlichkeiten auf und lernen dabei oft auch von der politischen Gegenseite. Weniger um eine Bewertung der Inhalte, sondern vor allem um die Wahl der eingesetzten Mittel, soweit diese mit Architektur verbunden sind, geht es in der aktuellen Schau „Protest/Architektur – Barrikaden, Camps, Sekundenkleber“im Museum für Angewandte Kunst (MAK) am Wiener Stubenring. Sie wurde in Kooperation mit dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Mai, wo sie bereits von September 2023 bis Januar 2024 zu sehen war, geplant, wirkt aber laut DAM-Direktor Peter Cachola Schmal in den hellen Räumlichkeiten in Wien völlig anders.
Mit dem Verweis auf die „Klimakleber“von heute folgt die Ausstellung einem sehr weiten Architekturbegriff, der nicht nur Bauten von Protestierenden, sondern bereits ihre bei Aktionen eingesetzten Körper einbezieht. Denn auch in diesen Fällen geht es ja den beteiligten Menschen – wie auch beim Errichten von Barrikaden und Protestcamps – vor allem um das Verzögern und Behindern von Handlungen, gegen die sich der Protest richtet. Den Aktivisten kann das geplante Abholzen von Wäldern, das Errichten von Industrieanlagen, der Ausstoß von Treibhausgasen, der Beschluss bestimmter Gesetze und manches andere ein Dorn im Auge sein.
„Wenn Protestbewegungen in den öffentlichen Raum ausgreifen und sich dort fortsetzen, wenn sie ihn blockieren, schützen und erobern, dann entsteht Protest-Architektur“, erklären die beiden Kuratoren, Oliver Leiser vom DAM und Sebastian Hackenschmidt vom MAK. Im Zusammenhang mit dieser Bauweise fällt auch rasch der Begriff „Verzögerungsarchitektur“.
Was in diesem Zusammenhang gebaut wird, hat meist ein flüchtiges Dasein, man weiß, dass es höchstwahrscheinlich früher oder später von den Behörden beseitigt wird, aber bis dahin soll es als Zeichen des Protests den von den Aktivisten abgelehnten Lauf der Dinge zumindest lange hinauszögern. In einzelnen Fällen können die Proteste auch erfolgreich sein und sogar Regierungen stürzen oder Bauprojekte ganz oder in der ursprünglich geplanten Form aufhalten. Natürlich spielt es eine Rolle, ob ein Protest in einem einigermaßen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat stattfindet, wo er nicht sofort brutal niedergewalzt wird, sondern die staatlichen Instanzen auf die Unversehrtheit der Protestierenden möglichst große Rücksicht nehmen.
Barrikaden der Julirevolution 1830 in Paris
Besucher bewegen sich durch eine Vielzahl von Modellen und Bildern und durch oft sehr detailgetreue Rekonstruktionen. Sie können auch Filmdokumente wie eine 16-minütige Installation des Regisseurs Oliver Hardt erleben. Besondere Highlights sind eine Original-Hängebrücke aus dem Hambacher Wald, eine über fünf Meter hohe „Tensegrity“-Struktur aus Wien und die Spitze eines „Monopods“aus Frankreich. Unter Tensegrity versteht man ein Tragwerk, bei dem sich Strukturen durch Druck und Spannung selbst stabilisieren, ein Monopod ist in der Architektur ein Hochsitz an einem bis zu zehn Meter langen Baumstamm, der mit Seilen am Boden abgespannt wird.
Historisch nimmt die Schau ihren Anfang bei den Barrikaden der Julirevolution 1830 in Paris, und führt dann über das Revolutionsjahr 1848 in Paris, Berlin, Frankfurt am Main und Wien und weitere historische Protestbewegungen in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und in die unmittelbare Gegenwart. Schon am Eingang wird an die sogenannte SemperBarrikade erinnert, die der berühmte, republikanisch gesinnte Architekt Gottfried Semper 1849 in Dresden errichtete und die nicht eingenommen werden konnte. Auch an späteren Protesten waren immer wieder gut ausgebildete Architekten und Ingenieure beteiligt.
Als Schwerpunkt liefert die Ausstellung zu 13 von 1968 bis 2022 entstandenen Protestbewegungen „Case Studies“(Fallstudien), die ausführlich über die errichteten Bauten, das jeweilige Anliegen der Aktivisten und die Dauer der Aktionen informieren.
„Den Armen zur Sichtbarkeit verhelfen“, war laut eines der Architekten der „Ressurection City“, John Wiebenson, das Ziel dieses 1968 auf der National Mall in Washington, DC, entstandenen Protestcamps. Mehrheitlich schwarze Demonstrierende lebten dort insgesamt 42 Tage lang in 650 selbstgebauten Hütten und nahmen immer wieder auch Veränderungen vor, die zuerst nicht geplant waren. Das Camp wurde von den Behörden für sechs Wochen genehmigt und dann von der Polizei geräumt.
Nur 33 Tage lebten im Frühjahr 1980 in Gorleben in Deutschland etwa 800 Menschen in der „Republik Freies Wendland“zusammen, um gegen Tiefenbohrungen für ein geplantes Atommüll-Endlager zu protestieren. Zwei Wochen vor der Räumung entstand dabei ein zwölf Meter hoher Turm-Pfahlbau, was der Besetzer Sigurd Elert so begründete: „Wenn alle auf dem
Boden sitzen, geht so eine Räumung ratzfatz. Mit einem Turm kann man’s der Polizei schwerer machen.“
Um die gleiche Zeit, im Mai 1980, begann auf dem Bauplatz der „Startbahn West“südwestlich von Frankfurt am Main ein 17 Monate währender Protest gegen die Rodung von 129 Hektar Wald und die Fluglärmbelastung in dieser Gegend. Der Architekt Ulrich Cremer würdigt bei diesem Protestcamp „die gestalterische Vielfalt, den sinnlich ästhetischen Umgang mit dem Material und die phantasievolle Handhabung der Dinge“.
Bewegung der Arbeitenden ohne Dach in Brasilien
Wenn alle auf dem Boden sitzen, geht so eine Räumung ratzfatz. Mit einem Turm kann man’s der Polizei schwerer machen. Besetzer Sigurd Elert
Seit 1997 organisieren sich in den städtischen Regionen Brasiliens Menschen ohne Wohnung im Rahmen der Bewegung MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto). Diese „Bewegung der Arbeitenden ohne Dach“. Die MTST besetzt brachliegende Grundstücke, weist auf Boden- und Immobilienspekulation hin und fordert die Nutzbarmachung dieser Fläche als bezahlbaren Wohnraum. Die 2017 in Sao Bernardo do Campo bei Sao Paulo erfolgte Besetzung
mit dem Titel „Povo Sem Medo“(„Volk ohne Angst“) mit 33.000 Teilnehmern und über 12.000 Hütten ist nicht nur die bekannteste MTST-Aktion, sondern auch eine der größten in ganz Lateinamerika. Dieses Protestcamp fiel durch seinen Grundriss auf: lange Reihen mit rechteckigen Hütten aus Plastikplanen in verschiedenen Farben, dazwischen in regelmäßigen Abständen schmale Gassen und kleine Plätze.
Mit dem „Arabischen Frühling“ist eine weitere Fallstudie verbunden, die auf den TahrirPlatz in der ägyptischen Hauptstadt Kairo führt. Dort kam es von 2011 bis 2013, etwa zweieinhalb Jahre lang, immer wieder zu Massenkundgebungen für politische Reformen und soziale Gerechtigkeit, deren erste zum Rücktritt des Präsidenten Muhammad Husni Mubarak führte. Zum Schutz gegen die Staatsgewalt wurden von Aktivisten Barrikaden errichtet und Zugangskontrollen durchgeführt.
Arabischer Frühling, Occupy Wall Street
Inspiriert von den arabischen Revolutionen startete am 15. Mai 2011 das nach diesem
Datum benannte Movimiento 15 M ein Protestcamp auf der Puerta del Sol in Madrid. Der Protest der über 300 Besetzer richtete sich gegen die Auswirkungen der Schuldenkrise als Folge der Finanzkrise 2008. Sie errichteten ein den ganzen Platz überdeckendes Zeltdach aus Seilen und Planen, die zwischen Straßenlaternen und selbst errichteten Stützen gespannt wurden.
Gegen die weltweite Finanzkrise und gegen die Dominanz von Großunternehmen trat im Herbst 2011 in New York die Bewegung „Occupy Wall Street“auf, die sich auf rund 90 Länder ausbreitete. Für 60 Tage wurde der Zuccotti-Park im Finanzdistrikt besetzt. Zum Erkennungsmerkmal der Bewegung wurden die Kuppelzelte, die anfangs noch nicht vorhanden waren, deren Zahl aber nach einem Kälteeinbruch rasch zunahm.
Bis heute dauern die 2012 begonnenen Proteste im Hambacher Wald in Deutschland an. Seit damals haben Klimaaktivisten bereits mehrere Generationen von Baumhaussiedlungen errichtet, um zu verhindern, dass der Wald abgeholzt und die Braunkohleförderung gesteigert wird. Auf komplexe Weise wurden dabei zahlreiche große Baumhäuser unter Verwendung von Seilen durch Traversen, Brücken und Netze verbunden.
Die im Dezember 2013 von wenigen Demonstranten begonnene Besetzung des symbolträchtigen Majdan Nesaleschnosti („Platz der Unabhängkeit“) in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw (Kiew) ist in die Geschichte eingegangen. Sie weitete sich zu einer breiten Protestbewegung aus, für die Tausenden Besetzer wurden nach und nach mehr als 200 Zelte und Hütten auf dem Majdan errichtet. Die Zugänge zum Protestcamp wurden mit Autoreifen, Sperrholz, Pflastersteinen und Sandsäcken verbarrikadiert. Die Bewegung erzwang im Februar 2014 den Rücktritt der Regierung von Wiktor Janukowytsch, wenige Tage darauf okkupierten die Russen die Halbinsel Krim.
Symbol des Regenschirms in Hongkong
Die repressive Politik Pekings gegenüber Hongkong führte dort zu zwei großen Protestbewegungen, zum Umbrella-Movement 2014 und zu den 2019-Protesten. Unter dem Symbol des Regenschirms wurden 2014 für drei Monate Geschäftsviertel besetzt und drei utopische Protestcamps gebaut. 2019 dauerten die Proteste ein Jahr, als Kennzeichen der Bewegung dienten Laserpointer und Minibarrikaden aus Ziegelsteinen.
In Deutschland ging es von Sommer 2020 bis Januar 2023 wieder gegen die Ausweitung des Braunkohleabbaus, und zwar in Lützerath, ausgehend vom Bauernhof von Eckardt Haukamp, des letzten Bewohners dieser Ortschaft. Das Protestcamp Lützerath mit seiner Kombination aus Baumhäusern und Bodenstrukturen von mindestens 2,5 Meter Höhe bedeutete einen neuen Typus von Verzögerungsarchitektur. Denn ab dieser Höhe muss die Polizei für alle Einsätze Spezialkräfte heranziehen.
Eine dichte Siedlung aus Zelten, Hütten und zu Behausungen umgebauten Traktoranhängern behinderte ab November 2020 für dreizehn Monate den Verkehr auf drei wichtigen Verkehrsrouten in die indische Hauptstadt Delhi. Zehntausende indische Farmer aus verschiedenen Landesteilen wandten sich mit kilometerlangen Protestcamps gegen drei umstrittene Agrargesetze. Nachdem der indische Premierminister Narendra Modi im November 2021 die Gesetzesvorlage zurückgezogen hatte, kehrten die Farmer in ihre Heimatorte zurück.
Einer österreichischen Protestgruppe, der „LobauBleibt!“-Bewegung, ist die letzte Fallstudie gewidmet. Die von der Verkehrspolitik bedrohte Lobau am Ostrand von Wien, gilt als eine der letzten schützenswerten Aulandschaften an der Donau. Der Start zum Bau eines Autobahnzubringers im August 2021 löste die Errichtung mehrerer Protestcamps aus, die zunächst nur aus Campingzelten bestanden. Später entstanden massivere Bauwerke und Gemeinschaftseinrichtungen sowie eine Pyramide aus Holz, eine ikonische Protestarchitektur. Die Stadt Wien ließ nach sechs beziehungsweise acht Monaten zwei der Camps von der Polizei räumen und abreißen.
Protest/Architektur – Barrikaden, Camps, Sekundenkleber, Museum für Angewandte Kunst (MAK), Stubenring 5, 1010 Wien, bis 25. August 2024. Zur Ausstellung gibt es einen dicken, aber handlichen, lexikonartigen Katalog im Taschenbuchformat „Protestarchitektur. Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023“, herausgegeben von
Oliver Elser und anderen (Verlag Park Books,
Zürich 2023, 19 Euro). www.mak.at
Was gebaut wird, hat meist ein flüchtiges Dasein, man weiß, dass es höchstwahrscheinlich früher oder später von den Behörden beseitigt wird.