Die nackte Wahrheit: Skandale, Missbrauchsaffären und noch vieles mehr
Historische Skizzen und Artikel über das Landleben in Luxemburg zwischen 1500 und 1800 von Al Estgen sind posthum in Buchform erschienen
Das Leben auf dem Land im „Ancien Régime“mit seinen hemmenden wie fördernden Umweltfaktoren, seine Menschen mit Ecken und Kanten – vom autokratischen Lehnsherrn über den „Hellechtsmann“zum arbeitenden Bauerkind – mit frommen und weniger frommen Worten und Taten: Der Geschichtslehrer Al Estgen hat die rurale Vergangenheit gleichsam einem Trüffeljäger aufgespürt, das einfache Leben der Bauern, die Lebenskreisläufe von der Wiege bis zur Grablege dokumentarisch gesammelt und zu einem vielfältigen Mosaik zusammengesetzt. Somit hat der Autor „le bon vieux temps“unseres einstigen Agrarlandes ein Stück weit entmystifiziert, inklusive der Geistlichkeit – von angehenden Priestern, die bei der Ausbildung „durch den korff gefallen“sind bis zu jenen Geistlichen, bei denen nicht nur der Eber logierte, sondern auch so manche Frau, die dem Seelsorger Kinder bescherte.
Keine Brueghel-Idylle
Der 2021 verstobene Geschichtslehrer war ihnen allen – Junge wie Alte, Gesunde wie Kranke, Kinder wie Spinner – auf den Fersen und lässt den Leser eintauchen in die heterogenen Lebenslagen und komplexen Besitz-, Arbeitsund Familienverhältnisse anhand von akribisch recherchiertem Archivmaterial. Viele Geschichten aus dem Landrevier Estgens sind keineswegs realitätsfremd. Der Autor zeichnet keine Brueghel-Idylle, sondern die nackte Wahrheit: Ein eher rauer Wind wehte durch Luxemburgs Bauernstuben und so mancher Kirchturm kam angesichts der Skandale und Missbrauchsaffären bereits im „Ancien Régime” ins Wanken.
Al Estgen hat in den Jahren 2004 bis 2020 historische Beiträge über das Landleben in Luxemburg geschrieben, die im Rahmen des Musikfestivals „Musek am Syrdall” erstmals veröffentlicht wurden. Weil diese Texte ein gutes Stück Sozialgeschichte unserer Dörfer widerspiegeln und somit jenen eine Stimme verleihen, die in der Geschichtsforschung oft vergessen oder stiefmütterlich behandelt werden, haben drei ehemalige Weggefährten des „fleißigen Forschers” die Schriften des Geschichtslehrers gesammelt, bearbeitet und als Buchform veröffentlicht.
„Eigentlich wollte Al Estgen eine Luxemburger Kulturgeschichte schreiben”, so die Herausgeber Gusty Braun, Pol Schiltz und Jeannot Waringo in der Einleitung zu dem im Winter 2023 erschienen Buch „Charivari. Das Landleben in Luxemburg 1500-1800”. Stehen in den ersten Jahren seiner Aufsätze die verschiedenen Lebensumstände und Arbeitsbedingungen in der Gemeinde Betzdorf im Mittelpunkt, so überwindet der Autor die lokalen Grenzen des Syrtales, um land auf, land ab den Bauern, den Mägden, den Müllern, den Richtern, den Kindern, den Pfarrern nicht nur auf die Pelle zu rücken, sondern auch ihr Dasein in ihrer Zeit zu verstehen. Konfliktfrei ist das Leben in den noch so idyllisch wirkenden Dörfern nicht. Sogar der Pfarrer von Feulen zieht in den „Krieg“gegen die Einwohner von Obermertzig. Dabei verwüstet der Geistliche den Friedhof, nur um auf den Stellenwert der Mutterkirche in Feulen aufmerksam zu machen und Bestattungen exklusiv im heiligen Bezirk des Friedhofes Feulen durchzusetzen.
„Vom bösen Geist behafft“
Al Estgen legt die Finger in die als schmerzhaft empfundenen Lebenserfahrungen der damaligen Bevölkerung. Wie ein Krimi liest sich so manche Begebenheit, wie beispielsweise die erzwungene Hochzeit der 26-jährigen Anna Rosina mit dem zwischen 85 und 90 Jahre alten Gaspar Back aus Echternach. Der Autor registriert in den Kriminalakten und Visitationsberichten Dokumente zu Ehebruch, Vergewaltigungen, Bigamie, „sodomistischer Sünden” (Homosexualität) sowie von Pfarrern gezeugten und nicht selten auch umgebrachten Kindern. Auch berichtet der Autor über die Belastung von Eltern, die drei Kinder haben, „welche aber alle drey mit denen bösen Geist behafft gewesen“, d.h. mit einer Behinderung leben, sowie von unter Demenz leidenden Familienmitgliedern.
Wissenswertes und kurioses hat der Historiker, der 2016 zusammen mit Pol Schiltz ein Urkunden- und Quellenbuch über den Echternacher Abt Robert von Monreal herausgebracht hat, zusammengetragen. So ist die Hochzeit von der Brautwerbung bis zur Vermählung als gesellschaftliches Ereignis mit vielen detaillierten Zeitzeugenberichten und matrimonialen Zeugnissen dokumentiert. Und das Rezept für den sogenannten Liebestrank gibts inklusive: Der „Liebstöckel“muss man mit „langer pfeffer und musscathen nuss mit einem ey oder pfannkuchen eingeben”!
Der Autor registriert in den Kriminalakten und Visitationsberichten Dokumente zu Ehebruch, Vergewaltigungen, Bigamie, „sodomistischer Sünden” sowie von Pfarrern gezeugten und nicht selten auch umgebrachten Kindern.