Eine Russin hilft ukrainischen Flüchtlingen
Anja unterstützt Flüchtlinge bei ihrer Flucht in den Westen. Sie kämpft gegen ihre eigene Angst, aber auch für das Recht, in Russland Mensch zu sein
Das Wort Organisation mag sie nicht. Auch weil es die Aufmerksamkeit der Staatsorgane wecke. „Ich will Menschen helfen, ich will mich von keinem Beamten ausfragen lassen.“Anja, Managerin, hat zu Beginn unseres ersten Messenger-Telefonats sehr entschieden darum gebeten, ihren Namen nicht zu nennen, auch nicht ihren Wohnort, sie nicht zu fotografieren.
Drei Wochen später treffe ich sie auf einem von gefrorenem Schneematsch überzogenen Hof zwischen zerrupft aussehenden Plattenbautürmen am Rand einer westrussischen Provinzhauptstadt. Eine groß gewachsene Frau mit schulterlangen, dunkelblonden Haaren. Ihre braunen Augen stehen weit auseinander, sie blicken streng. „Wir helfen, so gut wir helfen können, bringen Leute unter, wir geben Leuten zu essen, wechseln Verbände, organisieren Autos.“Heute können sie helfen, morgen nicht, es klingt fast abweisend.
Beratung und Unterstützung
Seit zwei Jahren, seit Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine, hilft Anja ukrainischen Flüchtlingen. Freiwillig und ehrenamtlich, Volontärinnen werden solche Frauen in Russland genannt. Anja berät und unterstützt Ukrainer, die aus sehr verschiedenen Richtungen sehr verschiedene Ziele anstreben. Menschen aus den von russischen Truppen besetzten Regionen, aus Cherson, Donezk oder Saporischschja, die über Rostow, Moskau und Tallinn weiter nach Warschau und ins ukrainische Mutterland wollen. Oder die in die umgekehrte Richtung unterwegs sind, um kranke Eltern, minderjährige Kinder oder Haustiere aus Russland herauszuholen.
Es sei ein Problem, dass Russland alle Grenzübergänge für die Ukrainer dicht gemacht hat, außer dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo, sagt Anja. Es sei aber auch ein Problem, wie stark die Bereitschaft der europäischen Länder, Ukrainer aus Russland aufzunehmen, nachgelassen hat.
: Wir verteidigen das Licht, das Recht, Mensch zu sein. Anja
Ukrainer, die nur einen Pass der Donezker oder Lugansker Rebellenrepublik besäßen, würden von baltischen oder polnischen Grenzern oft schikaniert. Aber auch ukrainische Kleinkinder, die in russisch besetzten Gebieten zur Welt gekommen sind und keine ukrainische Geburtsurkunde besitzen, seien Problemfälle. Und Finnland, das gegenüber den Flüchtlingen am offensten war, habe seine Grenze komplett zugemacht. Es sei auch ein Problem, dass sich Flüchtlinge an der Grenze oft verbal nicht zu helfen wissen. „Statt zu erklären, er sei ukrainischer Kriegsflüchtling, sagt jemand, er wolle zu seiner Schwester nach Warschau.“Für ihn bedeute
beides das gleiche, aber man weise ihn deshalb ab.
Anja listet auf, rationalisiert, wird ironisch. „Der ideale Flüchtling ist jung, ledig, gesund, hat Geld und alle Fahrkarten in der Tasche. Und er ist allein, hat keine Frau mit russischem oder usbekischem Pass.“Anja kritisiert die westlichen Grenzer, deren Ablehnungen oft Völkerrecht und eigenem Regelwerk widersprächen. Aber sie sagt auch, sie rate den Flüchtlingen von manchen Hostels in Russland ab, weil die Polizei dort regelmäßig Razzien gegen Ukrainer veranstaltet. „Ich verstoße gegen keine russischen Gesetze“, sagt sie.
Sehnsucht nach Gemeinschaft
Aber sie weiß, dass die Sicherheitsorgane keine Leute mögen, die ukrainischen Flüchtlingen helfen. In Belgorod wurde Anfang Februar die Volontärin Nadin Geissler festgenommen, jetzt steht sie wegen „öffentlicher Aufrufe gegen die Staatssicherheit“vor Gericht. Angeblich sympathisierte Nadin mit den Ukrainern und sammelte für ihre Armee Geld. Vorher hatte sie Ukrainer aus der umkämpften Charkiwer Region evakuiert und Spenden für ukrainische Flüchtlinge gesammelt.
Anja muss mit der Angst fertig werden, aber auch mit anderen Gefühlen. Seit zwei Jahren hilft sie sehr verschiedenen, manchmal unsympathischen, schwierigen Menschen. „Ich baue eine Mauer zwischen ihnen und mir auf. Meine Sache ist es, zu helfen, nicht zu lieben oder Schuld zu fühlen.“Aber trotzdem gehe es um Pflicht, darum Wirklichkeit zu flicken, Böses wettzumachen, für das gute Russland einzustehen. „Wir verteidigen das Licht, das Recht, Mensch zu sein“, hat sie mir einmal geschrieben. In Russland herrsche so viel Leere, so viel Trauer. „Erstickende Schmerzen und rauchende Einsamkeit.“
Vergangenen Freitag ist Anja in Moskau zur Beerdigung Alexej Nawalnys gegangen, vorher wurde in den Oppositionsmedien über Massenverhaftungen spekuliert, sie sei vor Angst fast gestorben. Aber obwohl sie auch Menschenmengen fürchte, habe sie sich unter den Tausenden Trauernden wohlgefühlt. „Wir haben uns umarmt, wir haben geweint.“Das Allerwichtigste sei der Augenkontakt gewesen. „Sich anzuschauen, zusammen zu sein. Mit Solchen wie dir selbst, mit Anderen, Verschiedenen.“Mut in Russland bedeutet jetzt auch Sehnsucht nach Gemeinschaft.