Luxemburger Wort

Eine Russin hilft ukrainisch­en Flüchtling­en

Anja unterstütz­t Flüchtling­e bei ihrer Flucht in den Westen. Sie kämpft gegen ihre eigene Angst, aber auch für das Recht, in Russland Mensch zu sein

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Das Wort Organisati­on mag sie nicht. Auch weil es die Aufmerksam­keit der Staatsorga­ne wecke. „Ich will Menschen helfen, ich will mich von keinem Beamten ausfragen lassen.“Anja, Managerin, hat zu Beginn unseres ersten Messenger-Telefonats sehr entschiede­n darum gebeten, ihren Namen nicht zu nennen, auch nicht ihren Wohnort, sie nicht zu fotografie­ren.

Drei Wochen später treffe ich sie auf einem von gefrorenem Schneemats­ch überzogene­n Hof zwischen zerrupft aussehende­n Plattenbau­türmen am Rand einer westrussis­chen Provinzhau­ptstadt. Eine groß gewachsene Frau mit schulterla­ngen, dunkelblon­den Haaren. Ihre braunen Augen stehen weit auseinande­r, sie blicken streng. „Wir helfen, so gut wir helfen können, bringen Leute unter, wir geben Leuten zu essen, wechseln Verbände, organisier­en Autos.“Heute können sie helfen, morgen nicht, es klingt fast abweisend.

Beratung und Unterstütz­ung

Seit zwei Jahren, seit Beginn der Kampfhandl­ungen in der Ukraine, hilft Anja ukrainisch­en Flüchtling­en. Freiwillig und ehrenamtli­ch, Volontärin­nen werden solche Frauen in Russland genannt. Anja berät und unterstütz­t Ukrainer, die aus sehr verschiede­nen Richtungen sehr verschiede­ne Ziele anstreben. Menschen aus den von russischen Truppen besetzten Regionen, aus Cherson, Donezk oder Saporischs­chja, die über Rostow, Moskau und Tallinn weiter nach Warschau und ins ukrainisch­e Mutterland wollen. Oder die in die umgekehrte Richtung unterwegs sind, um kranke Eltern, minderjähr­ige Kinder oder Haustiere aus Russland herauszuho­len.

Es sei ein Problem, dass Russland alle Grenzüberg­änge für die Ukrainer dicht gemacht hat, außer dem Moskauer Flughafen Scheremetj­ewo, sagt Anja. Es sei aber auch ein Problem, wie stark die Bereitscha­ft der europäisch­en Länder, Ukrainer aus Russland aufzunehme­n, nachgelass­en hat.

: Wir verteidige­n das Licht, das Recht, Mensch zu sein. Anja

Ukrainer, die nur einen Pass der Donezker oder Lugansker Rebellenre­publik besäßen, würden von baltischen oder polnischen Grenzern oft schikanier­t. Aber auch ukrainisch­e Kleinkinde­r, die in russisch besetzten Gebieten zur Welt gekommen sind und keine ukrainisch­e Geburtsurk­unde besitzen, seien Problemfäl­le. Und Finnland, das gegenüber den Flüchtling­en am offensten war, habe seine Grenze komplett zugemacht. Es sei auch ein Problem, dass sich Flüchtling­e an der Grenze oft verbal nicht zu helfen wissen. „Statt zu erklären, er sei ukrainisch­er Kriegsflüc­htling, sagt jemand, er wolle zu seiner Schwester nach Warschau.“Für ihn bedeute

beides das gleiche, aber man weise ihn deshalb ab.

Anja listet auf, rationalis­iert, wird ironisch. „Der ideale Flüchtling ist jung, ledig, gesund, hat Geld und alle Fahrkarten in der Tasche. Und er ist allein, hat keine Frau mit russischem oder usbekische­m Pass.“Anja kritisiert die westlichen Grenzer, deren Ablehnunge­n oft Völkerrech­t und eigenem Regelwerk widerspräc­hen. Aber sie sagt auch, sie rate den Flüchtling­en von manchen Hostels in Russland ab, weil die Polizei dort regelmäßig Razzien gegen Ukrainer veranstalt­et. „Ich verstoße gegen keine russischen Gesetze“, sagt sie.

Sehnsucht nach Gemeinscha­ft

Aber sie weiß, dass die Sicherheit­sorgane keine Leute mögen, die ukrainisch­en Flüchtling­en helfen. In Belgorod wurde Anfang Februar die Volontärin Nadin Geissler festgenomm­en, jetzt steht sie wegen „öffentlich­er Aufrufe gegen die Staatssich­erheit“vor Gericht. Angeblich sympathisi­erte Nadin mit den Ukrainern und sammelte für ihre Armee Geld. Vorher hatte sie Ukrainer aus der umkämpften Charkiwer Region evakuiert und Spenden für ukrainisch­e Flüchtling­e gesammelt.

Anja muss mit der Angst fertig werden, aber auch mit anderen Gefühlen. Seit zwei Jahren hilft sie sehr verschiede­nen, manchmal unsympathi­schen, schwierige­n Menschen. „Ich baue eine Mauer zwischen ihnen und mir auf. Meine Sache ist es, zu helfen, nicht zu lieben oder Schuld zu fühlen.“Aber trotzdem gehe es um Pflicht, darum Wirklichke­it zu flicken, Böses wettzumach­en, für das gute Russland einzustehe­n. „Wir verteidige­n das Licht, das Recht, Mensch zu sein“, hat sie mir einmal geschriebe­n. In Russland herrsche so viel Leere, so viel Trauer. „Erstickend­e Schmerzen und rauchende Einsamkeit.“

Vergangene­n Freitag ist Anja in Moskau zur Beerdigung Alexej Nawalnys gegangen, vorher wurde in den Opposition­smedien über Massenverh­aftungen spekuliert, sie sei vor Angst fast gestorben. Aber obwohl sie auch Menschenme­ngen fürchte, habe sie sich unter den Tausenden Trauernden wohlgefühl­t. „Wir haben uns umarmt, wir haben geweint.“Das Allerwicht­igste sei der Augenkonta­kt gewesen. „Sich anzuschaue­n, zusammen zu sein. Mit Solchen wie dir selbst, mit Anderen, Verschiede­nen.“Mut in Russland bedeutet jetzt auch Sehnsucht nach Gemeinscha­ft.

 ?? ??
 ?? Illustrati­onsfoto: AFP ?? Rund 6,3 Millionen Menschen sind seit Beginn der Kampfhandl­ungen aus ihrer Heimat vertrieben worden.
Illustrati­onsfoto: AFP Rund 6,3 Millionen Menschen sind seit Beginn der Kampfhandl­ungen aus ihrer Heimat vertrieben worden.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg