Luxemburger Wort

In Haiti ist die militärisc­he Macht der Banden größer als die des Staates

Das Land versinkt immer tiefer in Gewalt und Führungslo­sigkeit. Der internatio­nale Druck auf Premiermin­ister Henry steigt

- Von Klaus Ehringfeld

Es sind verstörend­e Berichte, die dieser Tage aus Haiti kommen. Man hört Beschreibu­ngen von Leichen auf offener Straße, die in tropischer Hitze verwesen und von Autos umkurvt werden. Man sieht Gruppen von Menschen, die ihr geringes Hab und Gut auf der Suche nach einem neuen Zuhause durch Port-au-Prince schleppen.

In den vergangene­n Tagen sind mehr als zehntausen­d Menschen von den Gangs und ihrer Gewalt aus ihren Vierteln in der Hauptstadt vertrieben worden. In bestimmten Stadtteile­n gehen die Passanten nur mit erhobenen Händen auf die Straße, um den Heckenschü­tzen der Gangs zu zeigen, dass sie unbewaffne­t sind. Nur, wer unbedingt raus muss, wagt sich nach draußen. „Um in Haiti zu überleben, muss man sich anpassen können“, erzählt Richard Widmaier, Chef des Nachrichte­nsenders Radio Métropole.

Chaos und Zerstörung

Derweil stiften die Gangs weiter Chaos und Zerstörung. Banken und Regierungs­gebäude werden geplündert und niedergebr­annt, Polizeista­tionen übernommen. „Die Polizei ist nicht zu sehen, der Staat ist abgetaucht, Schulen und Unternehme­n sind geschlosse­n“, sagt Rosy Auguste von der haitianisc­hen Menschenre­chtsorgani­sation RNDDH dem „Luxemburge­r Wort“. „Port-auPrince hält den Atem an.“Auch weil niemand wisse, was in den kommenden Tagen und Wochen passieren wird. Das Land ist ohne offizielle Führung. Die Gangs werden zunehmend zu faktischen Machthaber­n. Die Polizei ist ihnen in Zahl und Bewaffnung hoffnungsl­os unterlegen. „Wenn die Polizei der Gewalt nicht mehr standhält und wir den Flughafen oder den Präsidente­npalast fallen sehen, ist es vorbei“, warnte ein hoher US-Regierungs­beamter.

Bis Mittwochab­end (Ortszeit) konnte Premiermin­ister Ariel Henry nicht nach Haiti zurückkehr­en. Die Gangs bewachen den Airport der Hauptstadt, um die Rückkehr des ungeliebte­n Regierungs­chefs aus Afrika zu verhindern. Sie fordern seinen Rücktritt und drohen andernfall­s mit der Eskalation der Gewalt und einem „Bürgerkrie­g“. Letzten Berichten zufolge hält sich Henry nach einem Zwischenst­opp in den USA in Puerto Rico auf. Am Dienstag hatte die Dominikani­sche Republik ihm die Landeerlau­bnis verweigert.

Seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 ist das chronisch instabile Haiti, das sich mit der Dominikani­schen Republik die Insel Hispaniola teilt, auf dem Weg zu einem unregierba­ren und fragmentie­rten Staat. Etwa 200 kriminelle Banden ringen um Routen und Reviere und bekämpfen sich gegenseiti­g.

Sie handeln vor allem mit Drogen und Waffen, erpressen Schutzgeld­er und kontrollie­ren faktisch die Wirtschaft des kleinen Staates mit elf Millionen Einwohnern. Dem ungeliebte­n Premier Henry werfen sie zudem Machtaneig­nung vor. Er übernahm ohne Mandat die Geschäfte nach Moïses Tod und hat Verspreche­n zur Abhaltung von Wahlen immer wieder gebrochen. Seit 2016 wurde in Haiti nicht mehr gewählt, es gibt auch kein Parlament mehr.

„Henry ist politisch am Ende“

Der 74-Jährige Henry stößt auch bei Politikern auf breite Ablehnung. „Die Opposition sieht ihn heute als Hindernis, weil er sich immer wieder gegen eine Übergangsr­egierung gesperrt hat“, erläutert Diego Da Rin, Haiti-Experte der „Internatio­nal Crisis Group“. Inzwischen rücken auch die USA – die traditione­lle Schutzmach­t Haitis – von ihm ab und rufen ihn auf, den Übergang zu beschleuni­gen. Der Sprecher des US-Außenminis­teriums, Matthew Miller, forderte Henry am Mittwoch dazu auf, „eine multinatio­nale Sicherheit­sunterstüt­zungsmissi­on“vorzuberei­ten und „den Weg für Wahlen zu ebnen“. Henry müsse „Zugeständn­isse im Interesse des haitianisc­hen Volkes“machen.

Die paramilitä­rischen Gangs bewiesen mit ihrer Offensive seit Ende der Woche, dass sie Land, Leute und Regierung in die Knie zwingen könnten, unterstrei­cht Experte Da Rin im Gespräch. Die Banden, die rund 80 Prozent von Port-au-Prince kontrollie­ren, wollten mit ihrem Gewaltexze­ss zweierlei zeigen. „Zum einen kann eine politische Lösung nur über sie und mit ihnen am Verhandlun­gstisch folgen. Zum anderen wollen sie Kenia und andere Länder abschrecke­n und so verhindern, dass die geplante internatio­nale Polizeitru­ppe aufgestell­t wird“, die den karibische­n Krisenstaa­t befrieden soll. Genau deshalb war Premiermin­ister Henry Ende vergangene­r Woche nach Afrika geflogen, um dort die Entsendung von eintausend Polizisten festzuzurr­en. Die Reise nutzten die Gangs für ihre Gewaltoffe­nsive.

Der entscheide­nde Unterschie­d sei jetzt, dass die Banden nicht mehr gegeneinan­der kämpfen, sondern sich zusammenge­schlossen hätten, um Henry zu stürzen, betont Da Rin. „Es ist zweifellos der aggressivs­te Angriff der Gangs auf den Staat.“Und man müsse befürchten, dass die Gewalt im Falle der Rückkehr von Henry noch zunehmen werde. „Henry ist politisch am Ende“, unterstrei­cht auch Richard Widmaier.

: Um in Haiti zu überleben, muss man sich anpassen können. Richard Widmaier, Chef des Nachrichte­nsenders Radio Métropole

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