In Haiti ist die militärische Macht der Banden größer als die des Staates
Das Land versinkt immer tiefer in Gewalt und Führungslosigkeit. Der internationale Druck auf Premierminister Henry steigt
Es sind verstörende Berichte, die dieser Tage aus Haiti kommen. Man hört Beschreibungen von Leichen auf offener Straße, die in tropischer Hitze verwesen und von Autos umkurvt werden. Man sieht Gruppen von Menschen, die ihr geringes Hab und Gut auf der Suche nach einem neuen Zuhause durch Port-au-Prince schleppen.
In den vergangenen Tagen sind mehr als zehntausend Menschen von den Gangs und ihrer Gewalt aus ihren Vierteln in der Hauptstadt vertrieben worden. In bestimmten Stadtteilen gehen die Passanten nur mit erhobenen Händen auf die Straße, um den Heckenschützen der Gangs zu zeigen, dass sie unbewaffnet sind. Nur, wer unbedingt raus muss, wagt sich nach draußen. „Um in Haiti zu überleben, muss man sich anpassen können“, erzählt Richard Widmaier, Chef des Nachrichtensenders Radio Métropole.
Chaos und Zerstörung
Derweil stiften die Gangs weiter Chaos und Zerstörung. Banken und Regierungsgebäude werden geplündert und niedergebrannt, Polizeistationen übernommen. „Die Polizei ist nicht zu sehen, der Staat ist abgetaucht, Schulen und Unternehmen sind geschlossen“, sagt Rosy Auguste von der haitianischen Menschenrechtsorganisation RNDDH dem „Luxemburger Wort“. „Port-auPrince hält den Atem an.“Auch weil niemand wisse, was in den kommenden Tagen und Wochen passieren wird. Das Land ist ohne offizielle Führung. Die Gangs werden zunehmend zu faktischen Machthabern. Die Polizei ist ihnen in Zahl und Bewaffnung hoffnungslos unterlegen. „Wenn die Polizei der Gewalt nicht mehr standhält und wir den Flughafen oder den Präsidentenpalast fallen sehen, ist es vorbei“, warnte ein hoher US-Regierungsbeamter.
Bis Mittwochabend (Ortszeit) konnte Premierminister Ariel Henry nicht nach Haiti zurückkehren. Die Gangs bewachen den Airport der Hauptstadt, um die Rückkehr des ungeliebten Regierungschefs aus Afrika zu verhindern. Sie fordern seinen Rücktritt und drohen andernfalls mit der Eskalation der Gewalt und einem „Bürgerkrieg“. Letzten Berichten zufolge hält sich Henry nach einem Zwischenstopp in den USA in Puerto Rico auf. Am Dienstag hatte die Dominikanische Republik ihm die Landeerlaubnis verweigert.
Seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 ist das chronisch instabile Haiti, das sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola teilt, auf dem Weg zu einem unregierbaren und fragmentierten Staat. Etwa 200 kriminelle Banden ringen um Routen und Reviere und bekämpfen sich gegenseitig.
Sie handeln vor allem mit Drogen und Waffen, erpressen Schutzgelder und kontrollieren faktisch die Wirtschaft des kleinen Staates mit elf Millionen Einwohnern. Dem ungeliebten Premier Henry werfen sie zudem Machtaneignung vor. Er übernahm ohne Mandat die Geschäfte nach Moïses Tod und hat Versprechen zur Abhaltung von Wahlen immer wieder gebrochen. Seit 2016 wurde in Haiti nicht mehr gewählt, es gibt auch kein Parlament mehr.
„Henry ist politisch am Ende“
Der 74-Jährige Henry stößt auch bei Politikern auf breite Ablehnung. „Die Opposition sieht ihn heute als Hindernis, weil er sich immer wieder gegen eine Übergangsregierung gesperrt hat“, erläutert Diego Da Rin, Haiti-Experte der „International Crisis Group“. Inzwischen rücken auch die USA – die traditionelle Schutzmacht Haitis – von ihm ab und rufen ihn auf, den Übergang zu beschleunigen. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, forderte Henry am Mittwoch dazu auf, „eine multinationale Sicherheitsunterstützungsmission“vorzubereiten und „den Weg für Wahlen zu ebnen“. Henry müsse „Zugeständnisse im Interesse des haitianischen Volkes“machen.
Die paramilitärischen Gangs bewiesen mit ihrer Offensive seit Ende der Woche, dass sie Land, Leute und Regierung in die Knie zwingen könnten, unterstreicht Experte Da Rin im Gespräch. Die Banden, die rund 80 Prozent von Port-au-Prince kontrollieren, wollten mit ihrem Gewaltexzess zweierlei zeigen. „Zum einen kann eine politische Lösung nur über sie und mit ihnen am Verhandlungstisch folgen. Zum anderen wollen sie Kenia und andere Länder abschrecken und so verhindern, dass die geplante internationale Polizeitruppe aufgestellt wird“, die den karibischen Krisenstaat befrieden soll. Genau deshalb war Premierminister Henry Ende vergangener Woche nach Afrika geflogen, um dort die Entsendung von eintausend Polizisten festzuzurren. Die Reise nutzten die Gangs für ihre Gewaltoffensive.
Der entscheidende Unterschied sei jetzt, dass die Banden nicht mehr gegeneinander kämpfen, sondern sich zusammengeschlossen hätten, um Henry zu stürzen, betont Da Rin. „Es ist zweifellos der aggressivste Angriff der Gangs auf den Staat.“Und man müsse befürchten, dass die Gewalt im Falle der Rückkehr von Henry noch zunehmen werde. „Henry ist politisch am Ende“, unterstreicht auch Richard Widmaier.
: Um in Haiti zu überleben, muss man sich anpassen können. Richard Widmaier, Chef des Nachrichtensenders Radio Métropole