Die Trickkiste des Nesat B.
Wie ein verurteilter Sexualstraftäter seit Jahren die Justiz zum Narren hält. Und damit durchkommt
Eigentlich ist Nesat B. bereits seit 2019 verurteilt – wegen sexuellen Missbrauchs eines siebenjährigen Mädchens in einem Flüchtlingsheim in Foetz. Doch acht Jahre nach der Tat ist der Fall noch immer nicht abgeschlossen. Denn der Angeklagte zieht alle Register, um Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Übersetzer an der Nase herumzuführen. Und bisher kommt er damit durch.
Nesat B. war zum ersten Prozess 2019 nicht erschienen. Die Richter einer Kriminalkammer verurteilten ihn damals in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft, weil der heute 45-Jährige die Tochter seiner Zimmernachbarn missbraucht haben soll. Außerdem wurde er des Besitzes von Kinderpornografie für schuldig befunden. Laut Anklage soll er das Mädchen in sein Zimmer gelockt, dem Kind die Kleidung seiner Frau angezogen und es dann zu sexuellen Handlungen gezwungen haben. Das Mädchen sagt den Ermittlern, Nesat B. habe ihr gedroht, ihr den Kopf abzuschneiden, wenn sie ihn verrate.
Täter-Opfer-Umkehr
Gegenüber der Polizei und dem Untersuchungsrichter bemüht sich Nesat B., sich als das eigentliche Opfer darzustellen. Das Mädchen sei von sich aus in sein Zimmer gekommen, während er schlief, habe die Kleider seiner Frau angezogen, sich eine Zigarette angezündet und Bier getrunken. Dann habe die Siebenjährige ihn erpresst: Wenn er sie verrate, werde sie behaupten, er habe ihr schlimme Dinge angetan.
Die Richter glauben dem Kind – auch wegen der Widersprüche, die Nesat B. bei seinen verschiedenen Anhörungen aneinanderreiht. Zu den Indizien gehören aber auch DNS-Spuren in der Jogginghose und der Unterwäsche des Kindes. Den Vorwurf der Vergewaltigung sehen die Richter im ersten Prozess jedoch nicht als erwiesen an.
Fast zwei Jahre nach dem Urteil in Abwesenheit setzen Zielfahnder der Kriminalpolizei Nesat B. auf eine Liste der 17 meistgesuchten Sexualstraftäter auf der von Europol unterstützten Website Europe’s Most Wanted.
Nesat B. ist in seinem Heimatland Serbien eigentlich vor dem Zugriff der luxemburgischen Justiz sicher, stellt sich aber nach zähen Verhandlungen am Brüsseler Flughafen der belgischen Polizei.
Kurze Zeit später legt er Berufung gegen das in Abwesenheit gegen ihn ergangene Urteil ein. Er habe nie etwas von der Anklage gewusst. Der Staatsanwaltschaft gelingt es nicht, ihm das Gegenteil zu beweisen. Eine Mitarbeiterin hatte den Umschlag der Staatsanwaltschaft entgegengenommen, und zwei Jahre später konnte nicht mehr festgestellt werden, ob sie ihn ihm persönlich ausgehändigt hatte. Im Juni 2021 wird ihm deshalb ein neues Verfahren gewährt.
Inzwischen ist das Verfahren bereits sieben Mal ausgesetzt worden. Immer wieder, weil Nesat B. seinen Pflichtverteidigern das Mandat kündigt oder umgekehrt. Außerdem erhebt er immer wieder Einwände gegen Übersetzern und Übersetzungen.
Das ist auch am Dienstag ein zentrales Thema, als der Prozess wieder aufgenommen werden soll. Und wieder hat Nesat B. ein Ass im Ärmel: Er bestreitet, dass ihm das erste Urteil mit der von ihm geforderten Übersetzung zugestellt wurde. Und wieder nimmt er damit die Staatsanwaltschaft in die Pflicht. Sie muss ihm erneut nachweisen, dass ihm die Dokumente in der Untersuchungshaft – wo er sich derzeit wegen der mutmaßlichen Vergewaltigung seiner Ehefrau befindet – zugestellt wurden.
Kyrillische statt lateinische Buchstaben
Und: Seine Rechnung geht auf. Die Quittung ist bereits archiviert und das Archiv wird gerade in Kisten verpackt und neu sortiert. Die Staatsanwaltschaft hat also gerade keinen Zugriff auf die Akte und
kann den Beweis auf die Schnelle nicht erbringen. Dass er aber ein Recht darauf hat, weiß Nesat B. aus Artikel 6 der Menschenrechtskonvention.
Mehr als das: Nesat B. verlangt von der Vorsitzenden Richterin, dass ihm diese Dokumente nicht nur ins Englische, sondern auch in seine Muttersprache übersetzt werden. Und zwar nicht in Serbokroatisch, sondern in der offiziellen serbischen Landessprache – in kyrillischer Schrift.
Als ob das noch nicht genug der guten Dinge wäre, weist die Vorsitzende Richterin auf ein weiteres Verfahrensproblem hin: Die Staatsanwaltschaft habe in der Vorlage an die Strafkammer noch den Tatvorwurf der Vergewaltigung aufgelistet. Nesat B. ist aber in diesem Punkt bereits freigesprochen worden. Deswegen kann ihm im Oppositionsverfahren nur noch das vorgeworfen werden, wessen er für schuldig befunden wurde. Die Staatsanwaltschaft muss also einen neuen Antrag stellen.
Ein fast unzerreißbarer Geduldsfaden
„Même s’il commence déjà légèrement à m’énerver“, macht die Richterin unmissverständlich klar, gibt sie dem Antrag des Angeklagten statt. Ein Hintertürchen wird es dieses Mal nicht geben: Das erste Urteil soll ihm noch einmal zugestellt werden, und zwar im Original, in Englisch und Serbokroatisch und – für die wichtigsten Dokumente – auch in Serbisch, in kyrillischer Schrift und mit einer genauen Inhaltsangabe.
Bis es so weit ist, wird der Prozess erneut ausgesetzt. Ob Nesat B. dann weitere Schwachstellen im System findet, um ein Urteil gegen ihn zu verzögern, bleibt abzuwarten. Die Wahrung der Rechte der Verteidigung scheint zumindest gewährleistet. Das Recht des inzwischen 15-jährigen Opfers auf ein Strafverfahren gegen den Täter lässt auch acht Jahre nach Beginn der Ermittlungen auf sich warten.
Même s’il commence déjà légèrement à m’énerver ... Vorsitzende Richterin im Prozess