Der Duft von Zimt
18
„Sehr brauchbar ist sie. Sie beschützt mich. Und sie wird die flinkste Schmugglerin Hamburgs sein! Wir können ihr Briefe oder andere kleine Sachen an den Bauch binden, und dann flitzt sie schnell zwischen den Grünröcken hindurch. Ich habe schon angefangen, mit ihr zu üben. Übung macht die Schmugglerin, richtig?“
Karl verzog den Mund. Ein größerer Hund wäre um einiges praktischer – an den Toren waren immer wieder abgerichtete Köter unterwegs, die früher Milchkarren durch die Stadt gezogen hatten und nun Kaffee, Zucker oder Gewürze schmuggelten. Aber vielleicht erwiese sich Carlas geringe Größe auch als Vorteil. Sie fiel weniger auf.
Viel wichtiger als das war ihm aber Annas Blick. Ihre Augen leuchteten so glücklich, wie er es schon seit Monaten nicht mehr bei dem Mädchen gesehen hatte.
„Ich habe schon versucht, das Vieh wegzujagen“, mischte sich Rosine ein.
„Aber es ist immer wieder zurückgekommen. Wie Anna damals!“Rosine schüttelte den Kopf. „Ich sage dir, das war der Anfang vom Ende.“
„Es war der Anfang vom Ende dieser traurigen, schrecklichen
Zeit, die ihr ohne mich verbringen musstet!“, warf Anna ein.
„Und nun ist es der Anfang vom Ende einer Zeit ohne Carla. Ich habe sie vermisst. Wisst ihr, wie das ist, wenn man jemanden vermisst, obwohl man ihn gar nicht kennt? Das Gefühl saß hier“, sie legte sich die Hand auf den Bauch, „und es hat geschmeckt wie ranzige Butter.“
Karl atmete tief und überrascht ein wie jemand, den ein Schlag getroffen hat. Er wusste genau, wovon Anna sprach.
„Ach, was du wieder für einen Unsinn redest!“, rief Rosine.
„So, zurück zur Sache“, brummte Karl. „Dieser Brief. Was stand drin?“
Anna zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?“
„Warst du noch nicht bei Juliana?“
Juliana hatte früher einmal als Dienstmädchen bei einem Kaufmann gearbeitet. Sie war in dieser Hinterhofgemeinschaft die Einzige, die lesen konnte.
Karl trat ein paar Schritte den Gang hinunter und rief: „Julia- na?“
Kurz darauf streckte sie den Kopf aus einer der Buden.
„Schreit man so nach einer Dame? Du könntest wenigstens den Anstand besitzen und an meine Tür klopfen.“
Karl ging nicht darauf ein. „Kannst du uns etwas vorlesen?“
Er sah, wie sie die Augen verdrehte, doch dann kam sie geschwind zu ihnen herunter.
„Worum geht es denn?“In einer vertrauten Geste legte sie Karl die
Hand auf die Schulter und lächelte, so dass ihre seitlichen Zahnlücken zum Vorschein kamen.
Anna hielt ihr den Brief entgegen, und Juliana las vor: „Auflösung des Lagers innerhalb der nächsten drei Wochen, drei Fuder Puderzucker und anderthalb Fuder Zimt zur sofortigen Abholung. Geldübergabe an der Holzbrücke, täglich 12 Uhr.“Stirnrunzelnd sah Juliana auf. „Was bitte soll das bedeuten? Ihr plant doch nicht etwa…“
„Danke dir, Juliana.“Rasch nahm Karl ihr den Zettel aus der Hand, bedeutete Rosine und Anna, ins Haus zu gehen, und verabschiedete sich mit einem Kuss auf Julianas Wange, bevor er ihnen folgte und sie einfach stehen ließ.
„Ich habe geahnt, dass das passiert“, flüsterte er, sobald sie zu dritt in der kleinen, rußigen Küche standen. Anna wärmte sich mit Carla am Herd, der direkt in den Kamin eingebaut war. Sie musste sich ein wenig zur Seite neigen, da an einem Seil zwischen Kamin und Fenster Wäsche trocknete. Rosine stützte sich auf dem klapprigen Küchentisch ab und stieß beinahe gegen das kleine Wandregal, in dem aufrecht ein paar angeschlagene Teller und Tassen standen. In dem schmalen Lichtstreifen, der zum Fenster hereinfiel, machte ihr Gesicht ihrem Namen alle Ehre, braun gebrannt und mit unzähligen Furchen übersät. Grimmig sah sie ihn an. „Drei Fuder Puderzucker! Das ist Wahnsinn.“
„Die Franzosen werden immer gründlicher“, brummte Karl.
„Erst kürzlich haben sie das große Lager von Keeton ausgehoben. Tonnenweise Rhabarber haben sie gefunden … Dann heute die Vernichtung der Baumwolle … Der Alte fürchtet sicherlich, ihm könnte es bald ähnlich ergehen, und will das Lager räumen.“
Anna sah neugierig zwischen den beiden hin und her. „Wir können helfen, ich und Carla. Sie lernt schnell! Und ich habe beinahe mein neues Kleid fertig, ihr wisst schon, das mit den vielen Taschen im Unterrock. Ich sag ja immer: Kleider machen Schmugglerinnen, richtig? Und ich denke, ich bin in der letzten Zeit noch größer und stärker geworden, ein echtes Pfundsmädchen, ich kann einiges tragen.“
Doch weder Karl noch Rosine sahen das Kind an. Stattdessen starrten sie einander stumm in die Augen. Nein, schien Rosine mahnend zu sagen. Doch, antwortete Karl.
„Wenn ich all meine Taschen vollstopfe, kann ich bestimmt einen Gutteil nach Hause schmuggeln“, plapperte Anna munter weiter. Dann runzelte sie die Stirn und schien angestrengt nachzudenken. „Drei Fuder Puderzucker und anderthalb Fuder Zimt – wie viel ist denn das?“
Karl wiegte den Kopf. „Schätzungsweise … viereinhalb große Wagenladungen.“
Jetzt riss Anna die Augen auf. „Oh“, sagte sie. „Ja. Oh“, knurrte Rosine. Und an Karl gewandt fuhr sie fort: „Du müsstest mit einem Wagen jeweils ein ganzes Fuder durch das Tor schmuggeln – und das sechs Mal! Du hast noch nicht mal einen Karren, der groß genug ist. Das kannst du nicht schaffen!“Er schmunzelte und stemmte die Hände in die Hüfte. „Doch, Großmutter. Ich denke, das kann ich.“
5. Kapitel
Als Josephine und Fritz vom Grasbrook nach Hause kamen, war es für ihre Verhältnisse schon spät. Normalerweise hätten sie längst in ihren Betten gelegen.
(Fortsetzung folgt)