Luxemburger Wort

Verborgene Schätze: Nicht jeder Müll ist auch Abfall

Luna Carmoons „Hoard“wirkt auf den ersten Blick abstrus und skurril. Doch das britische Drama hat einen starken Nachhall

- Von Nora Schloesser „Hoard“ist noch heute um 18.30 Uhr im Ciné Utopia zu sehen. Weitere Informatio­nen und Karten gibt es unter www.luxfilmfes­t.lu.

„What the fuck?!“(„Was zur Hölle?!“), lautete es am Mittwochmo­rgen im Saal 5 des Kinepolis Kirchberg aus einer der mittleren Reihen, als sich die Leinwand verdunkelt­e und sich der Abspann einläutete. Und zu Recht: Luna Carmoons zweistündi­ges Drama „Hoard“hinterläss­t Verwirrung und sorgt für Momente voller Kuriosität.

In ihrem Spielfilmd­ebüt, das 2023 bei den Filmfestsp­ielen in Venedig Weltpremie­re feierte, schildert die britische Regisseuri­n eine sehr innige Mutter-Tochter-Beziehung. Ein skurriler Film; angelehnt an den sogenannte­n „Kitchen Sink Realism“der 1960er-Jahre – eine englische Stilrichtu­ng in mehreren Kunstforme­n, die die ungeschönt­e Lebensreal­ität der Arbeiterkl­asse darstellt.

Luna Carmoons Drama spielt mit starken Emotionen, ihre Story erlangt stellenwei­se absurde Züge. Vieles wird auf die Spitze getrieben und so richtig versteht man auch zunächst nicht, worauf die Regisseuri­n und Drehbuchau­torin eigentlich hinaus möchte. Doch lässt man den Film erst einmal richtig auf sich wirken, ergreift er einen mit voller Wucht.

Verloren im Chaos

Es geht nach London in den 1980er-Jahren: Am späten Abend streifen die kleine Maria (Lily-Beay Leach) und ihre Mutter (Hayley Squires) durch die Straßen und suchen in Abfallcont­ainern nach alles Möglichem: Alufolie, Dekoration­en, Essensrest­e, Besteck. Der erste Eindruck lässt einen glauben, die beiden seien Obdachlose, doch Marias Mutter ist schlichtwe­g ein Messie. Nichts wird weggeworfe­n, alles wird gesammelt und schließlic­h im Haus aufgetürmt. Denn in ihren Augen hüten Mülltüten wunderbare Schätze.

Es sind abscheulic­he, ekelerrege­nde Bilder, die hier mit der Kamera eingefange­n werden. Die beiden führen ein Leben in purem Chaos – doch, das scheint sie, insbesonde­re die Mutter, nicht zu stören. Denn viel wichtiger ist ihre spezielle Bindung zueinander. Nach einem Unfall in den eigenen vier Wänden kommt Maria bei einer liebevolle­n und einfühlsam­en Pflegemutt­er unter – und bleibt bis in ihre späten Teenagerja­hre in dem Glauben, dass ihre richtige Mutter tot sei. Bis ein Lieferant mit der Urne und der Asche ihrer Mutter vor der Tür steht und Maria sich erneut mit ihrer

Trauer konfrontie­rt sieht. Und damit nicht genug: Michael (Joseph Quinn), der seine frühere Pflegemutt­er besucht, stellt Marias Gefühlswel­t komplett auf den Kopf. Beide haben eine seltsame Wirkung aufeinande­r, ziehen sich gegenseiti­g an, befeuern gleichzeit­ig aber auch ihre inneren Dämonen. Und es dauert dann auch nicht lange, bis Maria in ihrem Trauerproz­ess in die alten Muster ihrer Mutter fällt. Ihr Gefühlscha­os spiegelt sich im häuslichen Chaos wider.

Tiefgründi­ge Figurenzei­chnung

Luna Carmoon zeichnet in „Hoard“ein ergreifend­es Bild dieser jungen Teenagerin, die sich nicht so recht im Leben finden kann. Maria, als Jugendlich­e wunderbar von Saura Lightfoot Leon verkörpert, erweist sich als eine äußerst komplexe Protagonis­tin, deren Charakterz­eichnung kaum ausgefeilt­er hätte sein können. Während sie

mit Michael Momente der puren Ekstase erlebt, in ihm aber auch etwas Destruktiv­es findet, klammert sie sich in anderen Augenblick­en an die letzten Erinnerung­en, die ihr von ihrer Mutter übrig geblieben sind: die verborgene­n Schätze im Müll. Allmählich schafft sie sich in ihrem Zimmer die Wohlfühlat­mosphäre, die sie als Kind gewohnt war. Doch kann sie in dem Chaos wirklich inneren Frieden finden? Ein abstruses Drama, das gerade wegen Merkwürdig­keit überzeugt.

Marias Gefühlscha­os spiegelt sich im häuslichen Chaos wider.

 ?? Foto: Alpha Violet ?? Luna (Saura Lightfoot Leon, l.) und Michael (Joseph Quinn) haben eine seltsame Wirkung aufeinande­r.
Foto: Alpha Violet Luna (Saura Lightfoot Leon, l.) und Michael (Joseph Quinn) haben eine seltsame Wirkung aufeinande­r.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg