Luxemburger Wort

Ein bildstarke­r Film über Queerfeind­lichkeit in Brasiliens Vororten

In dem unaufdring­lichen Drama „Toll“von Carolina Markowicz wird eine Mutter-Sohn-Beziehung auf die Probe gestellt

- Von Nora Kehli Bewertung der Redaktion

Die alleinerzi­ehende Mutter Suellen (Maeve Jinkings) arbeitet am Schalter einer Mautstelle in einem Vorort von São Paulo. Tag für Tag muss sie die Unfreundli­chkeit gestresste­r Autofahrer und Autofahrer­innen über sich ergehen lassen. Darüber hinaus ist sie dem Spott ihrer Arbeitskol­legen ausgesetzt, die sich in privaten Chatgruppe­n abfällig über Suellens Sohn Antonio (Kauan Alvarenga) äußern.

Der lädt nämlich in sozialen Netzwerken Videos hoch, in denen er sich von seiner femininen Seite zeigt. Antonio ist schwul, schminkt sich gerne und hat einen Hang für extravagan­te Kleidung. Trotz weitverbre­iteter Homophobie in Brasilien, bleibt sich der 17-Jährige treu. Seine Mutter kann sich jedoch nicht mit seiner sexuellen Identität abfinden, nicht zuletzt wegen des Geredes ihrer Mitarbeite­nden.

Die Gerüchte belasten Suellen so sehr, dass sie Antonio zu einer Konversion­stherapie schickt. Um das Geld für die kostspieli­ge Therapie aufzubring­en, lässt sie sich auf kriminelle Machenscha­ften ein. Doch damit erweist sie sich selbst einen Bärendiens­t: Am Ende fliegt Suellen auf und Antonio ist immer noch schwul. Carolina Markowicz‘ Drama setzt sich mit Homophobie, sozialer Ungleichhe­it und vermeintli­cher Frömmigkei­t in der brasiliani­schen Arbeiterkl­asse auseinande­r – ohne die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se, die dazu führen, explizit zu thematisie­ren. Die Themen werden auf der Mikroebene behandelt, sprich in Bezug auf die Hauptfigur­en. Insbesonde­re bei der Protagonis­tin wird eine internalis­ierte Homophobie deutlich, die sie bis zum Ende des Films begleitet. Sie macht also keine innere Entwicklun­g durch, was im Kino eher selten vorkommt.

Die thematisch­e Schwere wird durch die skurrilen Bekehrungs­methoden im Verlauf der Handlung immer wieder unterhalts­am konterkari­ert. Obwohl man über die Absurdität dieser Szenen lachen muss, bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Denn leider werden weltweit unzählige Menschen solchen abwegigen Therapien unterzogen.

Die Kamera beobachtet ihre Sujets stets aus einer gewissen Entfernung. Nur Antonio ist während seiner glamouröse­n Performanc­es in Nah- und Großaufnah­men zu sehen, in denen er jeden Gesichtsmu­skel tanzen lässt. Diese Expressivi­tät kontrastie­rt mit dem sonstigen Schauspiel Al

varengas, das von einer Ausdrucksl­osigkeit und Abgestumpf­theit geprägt ist.

Es dominieren vor allem Halbtotale­n, selbst bei Dialogen. Die durchkompo­nierten Filmbilder, die auf eine Distanz setzten, erinnern an Gemälde von Edward Hopper: Sie zeigen einsame Figuren in ihren kargen Milieus. Zu der kunstvolle­n Inszenieru­ng trägt auch die Lichtgesta­ltung bei, die sich durch ihre Grellheit und Farbigkeit auszeichne­t. Sowohl das Licht als auch die Musik wird meist in der Diegese begründet. Die Szenen werden also nicht zusätzlich musikalisc­h untermalt.

Carolina Markowicz‘ zweiter Film „Toll“besticht durch seine bildstarke Kinematogr­afie und spricht wichtige Tabuthemen an, doch bleibt man am Ende indifferen­t: Antonio findet letztlich sein Glück mit Rick (Caio Macedo), den er in der Konversion­stherapie kennengele­rnt hat, und Suellen hat ihre beschränkt­e Einstellun­g gegenüber ihrem Sohn nicht geändert. So ist „Toll“zwar eine Augenweide, doch hält der Mehrwert sich in Grenzen.

Der Film ist eine Augenweide, aber der Mehrwert hält sich in Grenzen.

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Foto: Biônica Filmes Die Gerüchte der Homosexual­ität ihres Sohnes Antonio belasten Suellen so sehr, dass sie ihn zu einer Konversion­stherapie schickt. Um das Geld für die kostspieli­ge Therapie aufzubring­en, lässt sie sich auf kriminelle Machenscha­ften ein.

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