„State of the Union“: Joe Biden schlägt zurück
Vor beiden Kammern des Kongresses zeigt sich der US-Präsident kraftvoll und kämpferisch wie lange nicht. Die Botschaft: Sein Alter ist kein Problem
Der kleine Zeiger der Uhr auf der Stirnseite des ehrwürdigen Plenarsaals näherte sich der „Elf“. Parlamentschef Mike Johnson hatte schon mehrfach energisch mit seinem hölzernen Hämmerchen aufs Pult geschlagen und die Sitzung offiziell geschlossen. Sogar das Licht war herunter gedimmt worden. Aber der ältere Herr mit den weißen Haaren und einem dreizackigen Einstecktuch im Jackett wollte einfach nicht gehen.
Angriffslustig und animiert wie selten hatte Joe Biden zuvor bei der abendlichen „State of the Union“-Sitzung beider Häuser des US-Kongresses 68 Minuten lang seine Regierungspolitik erklärt. Er war in einem Parforceritt durch die Innenpolitik und die außenpolitischen Krisen geeilt und hatte seinen Vorgänger Donald Trump insgesamt 13 Mal attackiert, ohne ihn ein einziges Mal beim Namen zu nennen. Doch anschließend tat der Präsident das, was ihm am meisten Freude macht: Er mischte sich unter die Zuhörer.
Ganz langsam schlenderte der 81-Jährige vom Rednerpult durch die Sitzreihen, schüttelte Hände, klopfte auf Schultern, ließ sich umarmen und Fotos machen. Fast eine halbe Stunde brauchte er so bis zur Tür der Kammer. Damit war sein Abend noch lange nicht zu Ende. In den endlosen Gängen des Kapitols plauderte Biden weitere 40 Minuten mit Abgeordneten und Zuhörern. Längst schon wartete draußen in der Nacht seine Cadillac-Limousine, das „Beast“, mit einer gewaltigen Polizeikolonne, um ihn zurück ins Weiße Haus zu fahren. Aber er hatte keine Eile. Erstaunlich dicht ließ der Secret Service die Gäste an den Präsidenten heran. Wer ihm nahe kam, konnte erkennen: Der Mann ist sehr zufrieden.
Von wegen zu alt für Weißes Haus
Wochenlang hatten die Medien wegen des Vorwahlkampfes deutlich mehr über Trump als über Biden berichtet. Und wenn es um Biden ging, dann meist um sein Alter und seine Patzer. Bei der „State of the Union“-Rede aber legte der „wohlmeinende, ältere Herr mit schlechtem Gedächtnis“, wie ihn ein Sonderermittler genannt hatte, den Schalter um auf Wahlkampfmodus und Attacke: Das Duell zwischen Biden und Trump um die Rückkehr ins Weiße Haus ist offiziell eröffnet. Der Amtsinhaber war kämpferisch, kraftvoll und bisweilen selbstironisch. Und er leistete sich keine nennenswerten Versprecher. Das war die eigentliche Botschaft des Abends.
Gleich zu Beginn seiner Rede ging Biden den Herausforderer mehrfach hart an. „Mein Vorgänger und einige andere hier wollen die Wahrheit über den 6. Januar 2021 (den Tag des Kapitolsturm, d. Red.) beerdigen“, prangerte er an. „Ein früherer Präsident verneigt sich vor Putin“, wetterte er: „Das ist unerhört. Es ist gefährlich. Das ist inakzeptabel.“Die Demokraten klatschten stürmisch. Bei den Republikanern applaudierte nur der scheidende Senator Mitt Romney. „Meine Botschaft an Präsident Putin ist einfach: Wir werden nicht weggehen. Wir werden nicht in die Knie gehen. Ich werde nicht in die Knie gehen“, kündigte er weitere Ukraine-Hilfen an.
Dann warf der Präsident seinem Rivalen vor, das Abtreibungsrecht gekippt zu haben. „Seht Euch an, was er für ein Chaos angerichtet hat!“, rief Biden aus und stellte eine Frau aus Texas vor, die für den Abbruch ihrer Risiko-Schwangerschaft in einen anderen Bundesstaat reisen musste. Der Präsident kritisierte sogar die neun Richter des Supreme Courts, von denen acht als Ehrengäste in den vorderen Reihen saßen: „Bei allem Respekt: Frauen sind nicht ohne Stimme oder politische Macht.“
Bereits voll im Wahlkampfmodus
Von der Inflation über die Arbeitsmarktlage und die Kriminalität bis zur Einwanderung eilte Biden durch alle wichtigen Politikfelder. Er pries die Erfolge seiner Politik, warf den Republikanern ihre Blockade beim Asylrecht vor und kündigte sozialund steuerliche Reformen an, die freilich stark an sein Programm von 2020 erinnerten. In der Nahostpolitik, die seine eigene Basis entzweit, verteidigte er das Selbstverteidigungsrecht Israels, mahnte aber auch eindringlich: „Israel hat eine fundamentale Verantwortung, unschuldige Zivilisten in Gaza zu schützen.“Angesichts der Blockade von Hilfslieferungen auf dem Landweg kündigte er die Errichtung eines schwimmenden Docks im Mittelmeer an, von dem aus Nahrungsmittel für die Palästinenser von Frachtschiffen entladen werden können.
Am Ende seiner Rede dann sprach Biden das Thema direkt an, das auch manche seiner Parteifreunde beunruhigt: Sein Alter. „Ich weiß, es sieht nicht so aus, aber ich bin schon eine Weile dabei“, versuchte er es mit Ironie, bezog sich auf Trump als „jemand in meinem Alter“, bemerkte, er sei oft für „zu jung oder zu alt“gehalten und damit unterschätzt worden und argumentierte schließlich mit einem erneuten Hieb gegen Trump: „Die Frage, die sich unserer Nation stellt, ist nicht, wie alt wir sind, sondern wie alt unsere Ideen sind.“
Doch natürlich wollte er an diesem Abend auch den ersten Teil der Frage demonstrativ beantworten. Erst um kurz vor Mitternacht verließ er das Kapitol und stieg in die Limousine. Im Vorbeifahren konnte man sein Gesicht hinter der Scheibe sehen. Der Präsident lächelte.
Die Frage, die sich unserer Nation stellt, ist nicht, wie alt wir sind, sondern wie alt unsere Ideen sind. Joe Biden, US-Präsident