„Xi will die Vormachtstellung in der Welt erlangen“
Chinas Staats- und Parteichef verfolgt ein klares außenpolitisches Ziel, das den USA missfallen dürfte, so der Historiker Steve Tsang
Xi Jinping hat die Volksrepublik grundlegend umgewälzt, doch seine politische Ideologie wurde bislang nur wenig beachtet. Der renommierte Historiker Steve Tsang hat Chinas mächtigen Führer beim Wort genommen.
Xi Jinping ist einer der mächtigsten Politiker weltweit, aber erst jetzt – über zehn Jahre nach seinem Amtsantritt als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas – gibt es eine unabhängige Buchpublikation über seine politische Ideologie. Warum?
Um die Gedankenlehre Xis zu verstehen, muss man schließlich sämtliche seiner Reden und Schriften durchforsten – das ist quälend langweilig und herausfordernd. Aber es ist auch wichtig, und deshalb haben wir es getan.
Selbst innerhalb Chinas gibt es trotz der unzähligen Forschungsinstitute kaum einen Experten, der Xis Lehre in verständlichen Worten auf den Punkt bringen kann. Das erinnert bisweilen an die nordkoreanische Propaganda des Kim-Regimes: Diese ist über weite Strecken dazu gedacht, möglichst diffus zu sein – damit sie eben nicht konkret überprüfbar ist.
Im Falle Xi Jinpings ist dies nicht der Fall – im Gegenteil. Er will, dass man sich mit seiner Lehre auseinandersetzt und sie annimmt. Das Problem der unzähligen Institute und Forschungszentren in China ist, dass sie alle politisch korrekt sein müssen. Sie sind geradezu hagiografische Studien von Xi Jinping. Unser Buch hingegen versucht in klaren Worten herauszuarbeiten, was die Bedeutung und die Implikationen von Xi Jinpings Gedankenlehre tatsächlich sind – mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Problemen. Wir haben keinen Gedanken darauf gegeben, ob es Xi Jinping gefallen würde oder nicht. In China könnte sich dies kein Forscher erlauben.
Welche biografischen Ereignisse haben Xi Jinpings politische Bildung geprägt?
Der Kollaps der Sowjetunion und der Niedergang des Kommunismus in Osteuropa waren Ereignisse, die sehr großen Einfluss auf seine Denkweise hatten. Das Erste, was Xi 2012 nach seinem Amtsantritt sagte, war: Die große Tragödie der heroischen KPSU sei es gewesen, dass – als Michail Gorbatschow die Ränge der Partei aufstieg – niemand der Kader Manns genug war, gegen den Verräter vorzugehen und ihn zu verhaften. Unter seiner
Amtszeit würde ihm das nicht passieren.
Das ist aber nur eine Dimension. Was am stärksten aus seiner Gedankenlehre hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition. Er versucht in niemandes Fußstapfen zu treten, sondern möchte ein wahrlich transformativer Führer sein, der China – gemäß Marx – zum gelobten Land führt. Seine Idee, China wieder groß zu machen, der Traum der „chinesischen Verjüngung“, geht weit darüber hinaus, was sich Staatsgründer Mao Zedong in seinen wildesten Träumen ausgemalt hat.
Was meinen Sie damit?
Mao sprach auf dem Höhepunkt seiner Macht während des „Großen Sprungs nach vorn“davon, dass China das Vereinigte Königreich übertreffen und dann versuchen würde, mit den Vereinigten Staaten gleichzuziehen. Xi geht es nicht um die USA. Er will die Vormachtstellung in der Welt erlangen und China zu seiner wahren Größe führen.
Verlangt er dafür die totalitäre Teilnahme aller seiner Bürger? Oder kann man es sich im China unter Xi Jinping noch leisten, passiven Widerstand zu leisten?
China ist ein riesiges Land mit 1,4 Milliarden Menschen. Selbst mit fast 100 Millionen Mitgliedern der Kommunistischen Partei und all den digitalen Technologien, die ihr zur Verfügung stehen, ist es ein schwieriges Unterfangen, alle auf Linie zu bringen. Es ist vor allem eine Frage, wie lange Xi noch an der Macht bleiben wird. Je länger er an der Macht bleibt, desto eher wird er sein Ziel erreichen können. Diejenigen, die sich nicht an seine Lehre anpassen, werden entweder im Gefängnis landen oder China verlassen. Aber davon sind wir noch entfernt.
Jahrzehntelang galt in China ein Gesellschaftsvertrag, der darauf beruhte, dass die Bevölkerung im Gegenzug für wirtschaftliche Verbesserungen ihre politischen Rechte an die Partei abtritt. Xi hat diesen Vertrag nun umgeschrieben.
Aus seiner Sicht hat er ihn verbessert. Es geht nicht mehr nur um eine hohe Wachstumsrate, sondern ebenfalls darum, dass die Menschen stolz darauf sind, Chinesen zu sein. Zudem geht es darum, die Wirtschaft zu einer innovativen Technologiebasis zu umzugestalten, und auch die
Kluft zwischen den Superreichen und den Superarmen zu verringern. Aber hier müssen wir sehr genau hinschauen: Xi Jinping versucht nicht wirklich, soziale Gerechtigkeit im marxistischen Sinne zu schaffen.
Tatsächlich spricht Xi sehr offen aus, dass er einen Wohlfahrtsstaat nach europäischem Vorbild ablehnt, weil dieser die Arbeiter „faul“machen würde. Warum diese Ablehnung?
Denn Xi Jinping ist nur dem Namen nach Marxist, in Wirklichkeit ist er durch und durch Leninist. Ein Marxist konzentriert sich in erster Linie auf soziale Gerechtigkeit und auf Umverteilung. Einem Leninisten geht es vorrangig um Kontrolle. Daran ist Xi Jinping am meisten interessiert. Er interessiert sich nicht für das Wohlergehen des einzelnen Individuums, sondern für das Wohl des Volks als Ganzes. Ein Volk zumal, das von der Kommunistischen Partei vertreten wird.
Welche Rolle sollen Privatunternehmen in Xi Jinpings Weltbild spielen?
Xi Jinping ist nicht per se gegen Privatunternehmen, solange sie patriotisch sind – also mit
: Diejenigen, die sich nicht an seine Lehre anpassen, werden entweder im Gefängnis landen oder China verlassen.
den chinesischen Traditionen, wie Xi sie definiert, übereinstimmen und der Kommunistischen Partei und ihrem obersten Führer gegenüber vollkommen loyal sind. Private Unternehmen, die alle diese Kriterien erfüllen, sind also in Ordnung – das sieht man am Beispiel von Huawei. Jedoch vor die Wahl gestellt zwischen Privatunternehmen und Staatsunternehmen, zieht Xi stets letztere als Stütze der chinesischen Wirtschaft vor.
Sie argumentieren, dass Xi auch seine Außenpolitik vor allem unter dem Aspekt betrachtet, ob sie der Kommunistischen Partei nützt. Möchte er, basierend auf dieser Annahme, die westliche Weltordnung stürzen?
Da müssen wir ganz klar unterscheiden: China möchte nicht die USA als globalen Hegemon verdrängen und ersetzen. Er bemüht sich jedoch, die liberale internationale Ordnung umzugestalten – und zwar in eine sinozentrische Weltordnung, in der China die herausragende Macht in der Welt darstellt. Wenn die USA dies akzeptieren, dann wird die chinesische Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern, sich der Vormachtstellung Chinas zu beugen, dann ist das eine andere Sache. Ob China diese Ambition erreichen kann, ist allerdings ein großes Fragezeichen.
Der Erfolg der KP beruhte seit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas stets darauf, dass sie auf lokaler Ebene sehr pragmatisch war und sich immer wieder neu erfunden hat. Unter Xi ist die Partei eine andere geworden. Gefährdet er die Stabilität des Systems?
Das hängt vom zeitlichen Rahmen ab. Kurz- bis mittelfristig stärkt Xi Jinping die Regierungsfähigkeit der Kommunistischen Partei. Längerfristig jedoch wird er die Nachhaltigkeit des Systems schwächen. Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Teil von Xi Jinpings Veränderungen: dass er nämlich die kollektive Führung an der Spitze der KP durch die Herrschaft eines einzigen Mannes ersetzt hat.
Vom Tiananmen-Massaker 1989 bis hin zu Xis Amtsantritt 2012 hat die Partei keine einzigen politischen Fehler gemacht, die ihre Existenz grundsätzlich gefährden würden. Das lag vor allem daran, dass die kollektive Führung es den Politikern erlaubte, hinter verschlossenen Türen ziemlich robuste und offene Diskussionen über politische Fragen zu führen. Seit Xi Jinping allerdings die Führungsspitze in eine Echokammer verwandelt hat, sehen wir, dass erhebliche politische Fehler gemacht wurden – von den „Null Covid“-Maßnahmen über die Hongkong-Politik bis hin zum Sturz der führenden IT-Firmen.
Als absoluter Kontrollfreak erscheint es nur logisch, dass Xi Jinping nicht bis an sein Lebensende regieren, sondern sicherstellen wird, dass eine Nachfolge in seinem Sinne gesichert ist. Wie werten Sie die Chance, dass ihm dies gelingen wird?
Bislang gar nicht. Xi hat noch nie darüber geredet oder überhaupt zugelassen, dass seine Nachfolge institutionalisiert wird. Was so bemerkenswert an Xi Jinpings Gedankenlehre ist: Sie reicht stets bis 2049, dem 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik China. Er hat sich jedoch nicht dazu geäußert, was danach geschehen soll. Xi ist derzeit 70 Jahre alt, 2049 wird er also 95 sein. Ob er dieses Alter erreicht oder nicht, weiß ich natürlich nicht. Aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dieser Mann mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt.
Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dieser Mann mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt.
Was am stärksten aus seiner Gedankenlehre hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition.