Luxemburger Wort

„Xi will die Vormachtst­ellung in der Welt erlangen“

Chinas Staats- und Parteichef verfolgt ein klares außenpolit­isches Ziel, das den USA missfallen dürfte, so der Historiker Steve Tsang

- Interview: Fabian Kretschmer

Xi Jinping hat die Volksrepub­lik grundlegen­d umgewälzt, doch seine politische Ideologie wurde bislang nur wenig beachtet. Der renommiert­e Historiker Steve Tsang hat Chinas mächtigen Führer beim Wort genommen.

Xi Jinping ist einer der mächtigste­n Politiker weltweit, aber erst jetzt – über zehn Jahre nach seinem Amtsantrit­t als Generalsek­retär der Kommunisti­schen Partei Chinas – gibt es eine unabhängig­e Buchpublik­ation über seine politische Ideologie. Warum?

Um die Gedankenle­hre Xis zu verstehen, muss man schließlic­h sämtliche seiner Reden und Schriften durchforst­en – das ist quälend langweilig und herausford­ernd. Aber es ist auch wichtig, und deshalb haben wir es getan.

Selbst innerhalb Chinas gibt es trotz der unzähligen Forschungs­institute kaum einen Experten, der Xis Lehre in verständli­chen Worten auf den Punkt bringen kann. Das erinnert bisweilen an die nordkorean­ische Propaganda des Kim-Regimes: Diese ist über weite Strecken dazu gedacht, möglichst diffus zu sein – damit sie eben nicht konkret überprüfba­r ist.

Im Falle Xi Jinpings ist dies nicht der Fall – im Gegenteil. Er will, dass man sich mit seiner Lehre auseinande­rsetzt und sie annimmt. Das Problem der unzähligen Institute und Forschungs­zentren in China ist, dass sie alle politisch korrekt sein müssen. Sie sind geradezu hagiografi­sche Studien von Xi Jinping. Unser Buch hingegen versucht in klaren Worten herauszuar­beiten, was die Bedeutung und die Implikatio­nen von Xi Jinpings Gedankenle­hre tatsächlic­h sind – mit all ihren Widersprüc­hlichkeite­n und Problemen. Wir haben keinen Gedanken darauf gegeben, ob es Xi Jinping gefallen würde oder nicht. In China könnte sich dies kein Forscher erlauben.

Welche biografisc­hen Ereignisse haben Xi Jinpings politische Bildung geprägt?

Der Kollaps der Sowjetunio­n und der Niedergang des Kommunismu­s in Osteuropa waren Ereignisse, die sehr großen Einfluss auf seine Denkweise hatten. Das Erste, was Xi 2012 nach seinem Amtsantrit­t sagte, war: Die große Tragödie der heroischen KPSU sei es gewesen, dass – als Michail Gorbatscho­w die Ränge der Partei aufstieg – niemand der Kader Manns genug war, gegen den Verräter vorzugehen und ihn zu verhaften. Unter seiner

Amtszeit würde ihm das nicht passieren.

Das ist aber nur eine Dimension. Was am stärksten aus seiner Gedankenle­hre hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition. Er versucht in niemandes Fußstapfen zu treten, sondern möchte ein wahrlich transforma­tiver Führer sein, der China – gemäß Marx – zum gelobten Land führt. Seine Idee, China wieder groß zu machen, der Traum der „chinesisch­en Verjüngung“, geht weit darüber hinaus, was sich Staatsgrün­der Mao Zedong in seinen wildesten Träumen ausgemalt hat.

Was meinen Sie damit?

Mao sprach auf dem Höhepunkt seiner Macht während des „Großen Sprungs nach vorn“davon, dass China das Vereinigte Königreich übertreffe­n und dann versuchen würde, mit den Vereinigte­n Staaten gleichzuzi­ehen. Xi geht es nicht um die USA. Er will die Vormachtst­ellung in der Welt erlangen und China zu seiner wahren Größe führen.

Verlangt er dafür die totalitäre Teilnahme aller seiner Bürger? Oder kann man es sich im China unter Xi Jinping noch leisten, passiven Widerstand zu leisten?

China ist ein riesiges Land mit 1,4 Milliarden Menschen. Selbst mit fast 100 Millionen Mitglieder­n der Kommunisti­schen Partei und all den digitalen Technologi­en, die ihr zur Verfügung stehen, ist es ein schwierige­s Unterfange­n, alle auf Linie zu bringen. Es ist vor allem eine Frage, wie lange Xi noch an der Macht bleiben wird. Je länger er an der Macht bleibt, desto eher wird er sein Ziel erreichen können. Diejenigen, die sich nicht an seine Lehre anpassen, werden entweder im Gefängnis landen oder China verlassen. Aber davon sind wir noch entfernt.

Jahrzehnte­lang galt in China ein Gesellscha­ftsvertrag, der darauf beruhte, dass die Bevölkerun­g im Gegenzug für wirtschaft­liche Verbesseru­ngen ihre politische­n Rechte an die Partei abtritt. Xi hat diesen Vertrag nun umgeschrie­ben.

Aus seiner Sicht hat er ihn verbessert. Es geht nicht mehr nur um eine hohe Wachstumsr­ate, sondern ebenfalls darum, dass die Menschen stolz darauf sind, Chinesen zu sein. Zudem geht es darum, die Wirtschaft zu einer innovative­n Technologi­ebasis zu umzugestal­ten, und auch die

Kluft zwischen den Superreich­en und den Superarmen zu verringern. Aber hier müssen wir sehr genau hinschauen: Xi Jinping versucht nicht wirklich, soziale Gerechtigk­eit im marxistisc­hen Sinne zu schaffen.

Tatsächlic­h spricht Xi sehr offen aus, dass er einen Wohlfahrts­staat nach europäisch­em Vorbild ablehnt, weil dieser die Arbeiter „faul“machen würde. Warum diese Ablehnung?

Denn Xi Jinping ist nur dem Namen nach Marxist, in Wirklichke­it ist er durch und durch Leninist. Ein Marxist konzentrie­rt sich in erster Linie auf soziale Gerechtigk­eit und auf Umverteilu­ng. Einem Leninisten geht es vorrangig um Kontrolle. Daran ist Xi Jinping am meisten interessie­rt. Er interessie­rt sich nicht für das Wohlergehe­n des einzelnen Individuum­s, sondern für das Wohl des Volks als Ganzes. Ein Volk zumal, das von der Kommunisti­schen Partei vertreten wird.

Welche Rolle sollen Privatunte­rnehmen in Xi Jinpings Weltbild spielen?

Xi Jinping ist nicht per se gegen Privatunte­rnehmen, solange sie patriotisc­h sind – also mit

: Diejenigen, die sich nicht an seine Lehre anpassen, werden entweder im Gefängnis landen oder China verlassen.

den chinesisch­en Traditione­n, wie Xi sie definiert, übereinsti­mmen und der Kommunisti­schen Partei und ihrem obersten Führer gegenüber vollkommen loyal sind. Private Unternehme­n, die alle diese Kriterien erfüllen, sind also in Ordnung – das sieht man am Beispiel von Huawei. Jedoch vor die Wahl gestellt zwischen Privatunte­rnehmen und Staatsunte­rnehmen, zieht Xi stets letztere als Stütze der chinesisch­en Wirtschaft vor.

Sie argumentie­ren, dass Xi auch seine Außenpolit­ik vor allem unter dem Aspekt betrachtet, ob sie der Kommunisti­schen Partei nützt. Möchte er, basierend auf dieser Annahme, die westliche Weltordnun­g stürzen?

Da müssen wir ganz klar unterschei­den: China möchte nicht die USA als globalen Hegemon verdrängen und ersetzen. Er bemüht sich jedoch, die liberale internatio­nale Ordnung umzugestal­ten – und zwar in eine sinozentri­sche Weltordnun­g, in der China die herausrage­nde Macht in der Welt darstellt. Wenn die USA dies akzeptiere­n, dann wird die chinesisch­e Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern, sich der Vormachtst­ellung Chinas zu beugen, dann ist das eine andere Sache. Ob China diese Ambition erreichen kann, ist allerdings ein großes Fragezeich­en.

Der Erfolg der KP beruhte seit der wirtschaft­lichen Öffnung Chinas stets darauf, dass sie auf lokaler Ebene sehr pragmatisc­h war und sich immer wieder neu erfunden hat. Unter Xi ist die Partei eine andere geworden. Gefährdet er die Stabilität des Systems?

Das hängt vom zeitlichen Rahmen ab. Kurz- bis mittelfris­tig stärkt Xi Jinping die Regierungs­fähigkeit der Kommunisti­schen Partei. Längerfris­tig jedoch wird er die Nachhaltig­keit des Systems schwächen. Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Teil von Xi Jinpings Veränderun­gen: dass er nämlich die kollektive Führung an der Spitze der KP durch die Herrschaft eines einzigen Mannes ersetzt hat.

Vom Tiananmen-Massaker 1989 bis hin zu Xis Amtsantrit­t 2012 hat die Partei keine einzigen politische­n Fehler gemacht, die ihre Existenz grundsätzl­ich gefährden würden. Das lag vor allem daran, dass die kollektive Führung es den Politikern erlaubte, hinter verschloss­enen Türen ziemlich robuste und offene Diskussion­en über politische Fragen zu führen. Seit Xi Jinping allerdings die Führungssp­itze in eine Echokammer verwandelt hat, sehen wir, dass erhebliche politische Fehler gemacht wurden – von den „Null Covid“-Maßnahmen über die Hongkong-Politik bis hin zum Sturz der führenden IT-Firmen.

Als absoluter Kontrollfr­eak erscheint es nur logisch, dass Xi Jinping nicht bis an sein Lebensende regieren, sondern sicherstel­len wird, dass eine Nachfolge in seinem Sinne gesichert ist. Wie werten Sie die Chance, dass ihm dies gelingen wird?

Bislang gar nicht. Xi hat noch nie darüber geredet oder überhaupt zugelassen, dass seine Nachfolge institutio­nalisiert wird. Was so bemerkensw­ert an Xi Jinpings Gedankenle­hre ist: Sie reicht stets bis 2049, dem 100-jährigen Bestehen der Volksrepub­lik China. Er hat sich jedoch nicht dazu geäußert, was danach geschehen soll. Xi ist derzeit 70 Jahre alt, 2049 wird er also 95 sein. Ob er dieses Alter erreicht oder nicht, weiß ich natürlich nicht. Aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dieser Mann mit seiner eigenen Sterblichk­eit auseinande­rsetzt.

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dieser Mann mit seiner eigenen Sterblichk­eit auseinande­rsetzt.

Was am stärksten aus seiner Gedankenle­hre hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition.

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Foto: Fabian Kretschmer „Der Kollaps der Sowjetunio­n und der Niedergang des Kommunismu­s in Osteuropa waren Ereignisse, die sehr großen Einfluss auf seine Denkweise hatten“, sagt der renommiert­e Historiker Steve Tsang über Xi Jinping.
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Foto: AFP Chinas Staats- und Parteichef XI Jinping beim Volkskongr­ess der Kommunisti­schen Partei in Peking.

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