Kandidat „Gottgewollt“gegen Kandidat „Ungültig“
Am kommenden Wochenende lässt sich Wladimir Putin von den russischen Wählern zum fünften Mal als Präsident bestätigen. Ein Ritual mit unvermeidlichem Ergebnis
Auch Russlands orthodoxe Geistliche lassen keinen Zweifel: „Man muss der Obrigkeit nicht mit Stolz, sondern mit Demut begegnen. Gott in seiner Weisheit hat die Führer über uns gestellt, die uns lenken können“, erklärte der Petersburger Metropolit Warsonofij. „Das Bessere ist immer das, was ist. Gut ist das, was Gott gewollt ist.“
So predigte der Kirchenfürst unlängst nach dem Einschlag einer Kampfdrohne in ein Petersburger Wohnhaus. Aber auch ohne die kriegerischen Aktualitäten war Warsonifijs politische Botschaft eindeu
Gesellschaftlicher Diskurs und die gesamte Opposition sind fast vollständig ausgemerzt.
tig: Jeder echte Christ beugt sich vor Staatschef Wladimir Putin und wählt nur ihn. Und die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen sind eigentlich ein überflüssiges Ritual. Denn Putin ist von Gott gewollt.
Resultat gilt als ausgemacht
Auf jeden Fall werden die russischen Wähler bei drei Abstimmungswahltagen vom 15. bis zum 17. März Demut üben und ihren Präsidenten im Amt bestätigen. Daran zweifeln weder die staatlichen Soziologen noch oppositionelle Analytiker. Die unabhängige Meinungsforschungsgruppe Russian Field prognostiziert Putin 81,8 Prozent der Stimmen jener Russen, die entschlossen sind, wählen zu gehen. Schon vorher war es ein offenes Geheimnis, dass der Kreml sich nicht mit weniger als 80 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 70 bis 80 Prozent zufriedengeben wird.
Zwar herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung Frustration über Putins klemmende „Kriegsspezialoperation“in der Ukraine, über den kriegsbedingt sinkenden Lebensstandard und sich trübende Zukunftsperspektiven. Aber dass Putin nach diesen Wahlen seine fünfte Amtszeit antreten wird, gilt der aus jeder Politik in passive Privatheit geflüchtete Mehrheit der Russen als rituelle Unvermeidbarkeit.
Gesellschaftlicher Diskurs und die gesamte Opposition sind fast vollständig ausgemerzt. Die liberalen Politiker Jekaterina Dunzowa und Boris Nadeschdin, die sich als Antikriegskandidaten präsentierten, wurden erst gar nicht zu den Wahlen zugelassen. Und die Zahl der kremltreuen Formalkonkurrenten war noch nie so klein: Der Chef der nationalpopulistischen Liberaldemokraten Leonid Sluzkij (Russian Field-Prognose: 3,9 Prozent), der Kommunist Nikolai Charitonow (6,5 Prozent) und Wladislaw Dawankow, DumaVizesprecher der pseudoliberalen „Neuen Leute“(7,4 Prozent).
Kremltreue Formalkonkurrenten
Charitonow und Sluzkij sind altgediente und linientreue Antiwestler, ihr Refrain „Russland hat nur einen Präsidenten“, gilt
ganz der Unterstützung Wladimir Putins. Dawankow erlaubt sich dagegen, an Nadeschdins versöhnliche Rhetorik anzuknüpfen. „Die Politiker müssen aufhören, innere und äußere Feinde zu suchen.“Allerdings gilt der 40-Jährige als einer der politischen Ziehsöhne Sergej Kirijenkos, des für Innenpolitik zuständigen Vizechefs der Kremlverwaltung. So verspricht er in seinem Wahlprogramm Frieden und Verhandlungen. „Aber zu unseren Bedingungen“. Das mag ihm Putin diktiert haben.
Es ist ungewiss, wie viele der gut 112 Millionen Wahlberechtigten das Regime mobilisieren kann. Bei den vergangenen Wahlen 2018 lag die Wahlbeteiligung bei 67,5 Prozent. Aber inzwischen besteht in 28 Regionen die fragwürdige Möglichkeit, online zu wählen. „Die elektronische Abstimmung erlaubt es, jedes nötige Ergebnis zu erzielen“, sagte ein anonymer Beamter der Präsidialverwaltung dem Portal Meduza. Oppositionelle IT-Fachleute kritisieren, dass es praktisch unmöglich ist, die digitale Stimmauszählung zu kontrollieren. Deshalb wird erwartet, dass Wähler von ihren Vorgesetzten im Öffentlichen Dienst, aber auch in Privatfirmen und in den Wahllokalen selbst massiv bearbeitet werden, digital zu stimmen.
Aber auch altmodische Mogeleien wie mehrfache Stimmabgaben, der Masseneinwurf von Stimmzetteln oder das Ungültigmachen von Gegenstimmen per
Hand, dürften wieder praktiziert werden. Zumal kritische Wahlbeobachter immer stärker unter den Druck der Sicherheitsorgane geraten, etwa die Wahlrechtsgruppe Golos, deren Mitvorsitzender Grigorij Melkonjanz seit August in U-Haft ist.
Er hat angeblich mit dem in Russland „unerwünschten“Wahlbeobachtungsnetzwerk ENEMO kooperiert, das ist inzwischen ein Straftatbestand. Wahlbeobachter regimetreuer Parteien wie der kommunistischen KPRF oder den „Neuen Leuten“aber sollen geneigt sein, bei diesen Wahlen nicht so genau hinzusehen, um den Wahlbehörden mehr Freiraum für Manipulationen zu liefern. „Putin malt sich seine 80 Prozent auf jeden Fall“, prophezeit der emigrierte Nawalny-Gefolgsmann Iwan Schdanow.
Strategielose Opposition
Aber die zum Großteil im Exil sitzende Opposition kann sich auch auf keine Strategie einigen – wieder einmal. Das Konzept der „klugen Abstimmung“, das die Putin-Gegner mehrere Jahre mit einigem Erfolg anwendeten, ist aus der Mode geraten. Es sieht vor, auf jeden Fall gegen Putin oder seine Parteigänger zu stimmen und für den Gegenkandidaten, der das geringste Übel darstellt. „Wer zeigen will, dass er gegen Putin und seinen Krieg ist, sollte Dawankow wählen“, sagt ein Moskauer Politologe anonym. „Auch wenn er natürlich ein vom Kreml abhängiger Kandidat ist, könnte er gerade in den Städten Putin viele Stimmen abnehmen.“Aber der Exilpolitiker Maksim Katz, der dazu aufrief, für Dawankow zu wählen, wurde von anderen Emigranten wie dem Politologen Iwan Preopraschenskij schon als „Komsomolze“beschimpft, der die „Narrative des Kremls“unterstütze.
Statt „kluger Abstimmung“fordern viele Exil-Experten jetzt, am kommenden Sonntag um Punkt 12 Uhr wählen zu gehen, um mit Warteschlangen vor den Abstimmungslokalen Opposition zu demonstrieren. Der Vorschlag findet allgemeine Unterstützung, auch weil sich noch Alexej Nawalny für ihn ausgesprochen hatte. Wieder andere Regimekritiker propagieren den „Kandidaten Ungültig“: Die Wähler sollen alle vier Namen auf dem Abstimmungszettel ankreuzen, um Putins prozentuales Ergebnis durch möglichst viele ungültige Stimmen zu drücken.
Aber die 80 Prozent gelten schon jetzt als rote Linie des Kremls, mit weniger Putin-Stimmen rechnet kaum jemand. „Und selbst ein miserables Wahlergebnis brächte das Regime nicht zum Wanken“, sagt der anonyme Moskauer Politologe. „Bei den Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus stimmten faktisch 90 Prozent gegen Amtsinhaber Alexander Lukaschenko. Aber seine Sicherheitsorgane haben alle Massenproteste brutal abgeräumt.“Auch Putins Macht hängt längst nicht mehr von der Zustimmung des Wahlvolkes ab.
Putins Macht hängt längst nicht mehr von der Zustimmung des Wahlvolkes ab.