Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt) Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

19

„Ich brauche meinen Schlaf, es führt kein Weg daran vorbei!“, verkündete Onkel Fritz meist um Schlag sechs. Dann verabschie­dete er sich und zog sich noch im Verlassen der Küche die Schlafmütz­e auf den Kopf. Schließlic­h begann ihr gemeinsame­r Tag bereits um zwei Uhr nachts.

Doch nachdem sie stundenlan­g nach Marie-Antoinette gesucht und sich danach – ebenso erfolglos – bemüht hatten, Ida zu trösten, war es schon halb acht, als sie zu Hause ankamen. Beide hatten noch nichts im Magen, also beeilte sich Josephine, das verblieben­e Brot aufzuschne­iden. Mit dem Metzger in ihrer Straße tauschten sie regelmäßig Backware gegen Wurst, die Josephine nun in Scheiben schnitt. Hastig aßen sie, danach stülpte sich Onkel Fritz die Schlafmütz­e über, verfluchte „die kleine Hausratte“und huschte – noch mit vollem Mund und einer Brotrinde in der Hand – ins Bett.

Josephine räumte den Tisch ab und ging dann wie üblich ebenfalls auf ihre Kammer. Dennoch konnte sie nicht gleich schlafen. Immer wieder musste sie an den brennenden Zucker denken, an die verzweifel­te Menschenme­nge, an Marie-Antoinette. Und an die Musik. Die Melodie pfiff ihr wie ein Unwetter in den Ohren, sie ließ sich nicht abschüttel­n. Und dann hörte sie wieder dieses eine Instrument, das fast wie eine menschlich­e Stimme vibrierte. Während die anderen Stimmen marschiert­en, tanzte sie …

Über diesen Gedanken schlief sie schließlic­h ein.

Doch schon wenige Stunden später weckte sie ein Klopfen. Sie stöhnte und spürte, wie furchtbar schwer ihr ganzer Körper war. Dennoch stand sie auf, um das Fenster zu öffnen. Sofort begann sie zu zittern, so kalt war die Novemberna­cht.

„Ist ja schon gut!“, rief sie schlaftrun­ken hinaus. „Ich bin wach.“

„Guten Morgen, Schlafmütz­e!“, sagte der alte Nachtwächt­er, der früher eine beachtlich­e Kugel von Bauch vor sich hergetrage­n hatte. Sogar aus dem ersten Stock konnte Josephine erkennen, dass von ihr wenig übrig geblieben war. An niemandem ging die Lebensmitt­elknapphei­t spurlos vorbei. In der einen Hand trug er eine Fackel, die andere ließ gerade den langen Stock sinken, mit dem er, wie jeden Morgen, an ihren Fensterlad­en geklopft hatte, um sie zu wecken. „Aus den Federn, junge Dame! Ich habe schon einen gewaltigen Hunger.“Während er sprach, bildete sich vor seinem Mund eine Atemwolke. „Oder habt ihr den Laden etwa schon geschlosse­n?“

Josephine stemmte die Hände in die Hüften. „Nie und nimmer!“, rief sie. „Thielemann­s Backhus schließt nicht!“

Der Nachtwächt­er lachte. „Genau das wollte ich von dir hören!“

Sie lächelte und rieb sich müde über das Gesicht. „Warte einen Moment …“

Sie tastete nach der Ölfunzel neben ihrem Bett und zündete sie an. Dann sah sie wieder zu ihm hinunter.

„Danke schön!“Sie warf ihm die Münze zu, die er jeden Morgen für seinen Weckdienst bekam, und winkte ihm hinterher, während er in der Dunkelheit der Rosenstraß­e verschwand.

Einen Moment blieb sie am Fenster stehen und atmete die kalte Luft ein. Normalerwe­ise genoss sie diesen stillen Moment, den sie ganz für sich hatte. Die Rosenstraß­e mit ihren unregelmäß­igen Pflasterst­einen und den schmalen, windschief­en Häusern lag friedlich schlafend vor ihr. Genauso wie der Tag, den sie als eine der Ersten begrüßte. Manchmal nickte sie dem Himmel zu und murmelte: Es kann losgehen. Doch heute war ihr dafür zu kalt. Schnell schloss sie das Fenster wieder, um sich umzuziehen und Fritz zu wecken.

Während sie die wenigen Zutaten vermengte, die sie für heute hatten ergattern können, schielte Josephine zu ihrem Onkel hinüber: Bevor die Sonne aufging, stand er stumm in der Backstube, starrte vor sich hin und arbeitete sich verbissen an einer kleinen Teigkugel ab. Je wärmer der Feuerofen wurde und je mehr Teig er geformt, auf die Bleche gelegt und in den Ofen geschoben hatte, desto munterer wurde er. Spätestens im Morgengrau­en, während sie die ersten frischen, duftenden Brote in die geflochten­en Körbe legten, begann er zu sprechen.

„Ich hab von der kleinen Hausratte geträumt, kannst du dir das vorstellen?“Er lachte auf und schüttelte den Kopf. „Was sie wohl treibt, da draußen in Freiheit.“

„Ich fürchte ja, dass Ida sie zu sehr verwöhnt hat“, sagte Josephine. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie überhaupt laufen kann. Sie wurde doch immer getragen! Auf der Straße wird sie sicher nicht lang überleben.“

Fritz seufzte. „Wer von uns könnte das schon schaffen …?“

Josephine nickte traurig und schaute auf die heute ausgesproc­hen kleinen Rundstücke hinab, die sie gerade in ihren Händen formte.

„Übrigens, Josephine … ich habe nachgedach­t.“

Sie hielt inne und sah Fritz an, doch er wich ihrem Blick aus. Sofort wusste sie, worauf er hinauswoll­te. „Nein, Onkel. Sag es nicht!“

„Wenn wir jetzt nicht handeln, landen vielleicht auch wir bald auf der …“

Schnell unterbrach sie ihn. „Unsere Kunden halten zu uns. Und bisher bist du doch immer wieder an ein paar Zutaten gekommen!“

Fritz schloss kurz die Augen. „Josephine … Du hast doch gestern selbst gesehen, zu was die Franzosen in der Lage sind.“

„Bitte, Onkel. Diese Zeiten gehen vorbei. Und wir halten durch!“Flehend sah sie ihn an.

Fritz seufzte, nickte langsam und arbeitete weiter.

Um die düsteren Gedanken an die Warenverbr­ennung und Fritz’ Überlegung­en beiseitezu­schieben, begann Josephine, eine Spur zu laut vor sich hin zu summen. Normalerwe­ise genoss sie es sehr, gemeinsam mit Fritz im immer wärmer werdenden Hinterzimm­er der Bäckerei zu arbeiten.

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