Aussagekräftiges Historiendrama über weibliche Selbstbestimmung
Mit „Die Mittagsfrau“ist Barbara Albert eine fesselnde Romanverfilmung gelungen, die beinahe auf ganzer Linie überzeugt
„Du hast kein Recht. Für solche wie euch gibt es keine Rechte!“, schreit Wilhelm (Max von der Groeben) seine Frau Helene (Mala Emde) an. Er vergewaltigt sie, beutet sie aus – behandelt sie schlichtweg wie seine Sklavin, die sich den ganzen Tag um den Haushalt und das gemeinsame Kind kümmern muss. Denn „seine Frau braucht nicht arbeiten zu gehen“. So wie es sich in einer Familie mit patriarchalischer Rollenverteilung zur Zeit des Dritten Reichs gehört …
Helene, die ihre Leben lang davon geträumt hat, Ärztin zu werden, ist in ihrer ungewollten Mutter- und Hausfrauenrolle gefangen. In erster Linie ist sie als sogenannte „Halbjüdin“auch Opfer ihrer Zeit: dem Nationalsozialismus. Wie aus der selbstbestimmten und emanzipierten jungen Frau eine derart desillusionierte Persönlichkeit wird, bringt die österreichische Regisseurin Barbara Albert mit „Die Mittagsfrau“auf eingängige Weise auf die große Leinwand.
Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Julia Franck überzeugt nicht nur durch ein packendes Drehbuch (Meike Hauck und Barbara Albert), sondern punktet ebenfalls mit eindringlichem Sound und außergewöhnlichen Kameraperspektiven. Ein Historiendrama über weibliche Körperlichkeit, Freiheit und
Identitätssuche, koproduziert von der Luxemburger Gesellschaft Iris Productions, das berührt und erschüttert zugleich.
In die Enge getrieben
Nachdem Helene und ihre Schwester Martha (Liliane Amuat) zu ihrer Tante Fanny (Fabienne Elaine Hollwege) nach Berlin ziehen und dort die „roaring twenties“in vollen Zügen auskosten, beginnt für beide Frauen ein neuer Lebensabschnitt. Ganz entsprechend dem Typus der Neuen Frau zur Zeit der Weimarer Republik tauscht Helene brave Zöpfe gegen frechen Bubikopf, beginnt in einer Apotheke zu arbeiten, macht Abitur mit Aussichten auf ein Studium.
Während ihre Schwester immer mehr dem Drogenrausch verfällt – ausgedehnte Party- und Tanzszenen im Hause der Tante Fanny vermitteln ein gelungenes Bild von Berlins Halbwelt der 20er-Jahre – lernt Helene den Germanistikstudenten Karl (Thomas Prenn) kennen. Eine Amour fou, deren Leidenschaft sich in sinnlichen Bildern manifestiert und in der sich Helene als selbstbewusste Frau vollkommen ausleben kann. Dieses Freiheitsgefühl zeigt sich auch in den verspielten Paar-Szenen.
Als Karl bei einer Demonstration gegen den Nationalsozialismus vor dem Reichstag ums Leben kommt, fällt Helene in eine tiefe Depression, die Barbara Albert ohne viel Dramatisierung, recht nüchtern einfängt. Mit der allmählichen Etablierung des Dritten Reichs sieht Helen ihre Leben und berufliche Karriere immer mehr gefährdet, weswegen sie den überzeugten Nazi Wilhelm heiratet. Dieser beschafft ihr neue Papiere: Helen muss sich fortan Alice nennen. Doch mit der Heirat – am Hochzeitstag regnet es in Strömen, ein Sinnbild für diesen traurigen Moment – wird Helene immer mehr in die Enge getrieben.
Ambivalente Protagonistin
„Die Mittagsfrau“zeichnet ein vielschichtiges Porträt einer Frau in unterschiedlichen Lebensphasen. Eine Figur, bei der sich die Gemüter spalten, mit der man dennoch einwandfrei sympathisieren kann. Mit der Geburt ihres Sohnes gerät Helene in eine Existenzkrise. Wie nervenzerreißend und fordernd das Kind ist, wird gekonnt durch das konstante, besonders laute Schreien des Babys untermalt. Auf der Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit und der Rückgewinnung ihrer alten, wahren Identität, lässt sie sogar ihr eigenes Kind am Bahnhof zurück …
Unter die glatten Kameraaufnahmen mischen sich Kurzszenen in Retro-Optik, die mit einem weißen Rauschen daherkommen. Diese verleihen dem Film das gewisse Etwas. Close-ups auf Helene fangen ihre Emotionen – Mala Emde zeigt sich besonders ausdrucksstark – mit der Kamera ein.
Mit ihrer über zweistündigen Romanverfilmung ist Barbara Albert ein fesselndes Drama gelungen, das keine Minute zu lang ist. Beklemmend, tiefsinnig und keineswegs aus der Zeit gefallen.