Luxemburger Wort

Als islamistis­che Terroriste­n fast 200 Menschen in den Tod rissen

Am 11. März 2004 ließ eine Gruppe Islamisten zehn Bomben in vier Madrider Vorortzüge­n explodiere­n. Nie starben in Europa mehr Menschen bei einem Terroransc­hlag

- Von Martin Dahms (Madrid)

Elena Figueredo erinnert sich an alles. „Du warst noch bei Bewusstsei­n, wenn auch benommen, und konntest mit mir sprechen. Du sagtest mir, dass du keine Luft bekämst, dass dir kalt sei, dass dir alles wehtue. Schließlic­h musste ich mich um andere Verletzte kümmern, und du sagtest mir: ‚Geh nicht, geh nicht.‘ Aber ich habe dir erklärt, dass es anderen noch schlechter ging als dir, und du hast mich gehen lassen.“

„Ich erinnere mich an nichts mehr“, sagt Maite Montero. Sie war damals 26 Jahre alt. Am Morgen hatte sie in Entrevías einen Vorortzug genommen, der sie in die Innenstadt von Madrid bringen sollte. Kurz nach halb acht, ein paar hundert Meter vor der Einfahrt in den Bahnhof Atocha, explodiert­en mehrere Bomben an Bord. Montero weiß nur noch, dass ihr danach sehr kalt war. „Das nächste Bild, das ich im Kopf habe, ist das von meiner Familie hinter einer Glasscheib­e, Tage später, als ich allein im Krankenhau­s aufwachte.“

José María Aznar, der damalige spanische Ministerpr­äsident, wollte, dass hinter jenen Anschlägen die baskische ETA und nicht Al Qaeda steckte.

20 Jahre danach trifft sich Montero mit Elena Figueredo, der Rettungsär­ztin, die sich am Morgen jenes 11. März 2004 zwischen den Gleisen um die Schwerverl­etzte kümmerte. Die Zeitung „El Mundo“hat die beiden zusammenge­bracht, zum ersten Mal seit jenem Tag des Terrors. „Mein Mädchen, mein Mädchen!“, wiederholt Figueredo eins ums andere Mal, während sie Montero die Hand hält.

Sie weinen, sie umarmen sich, sie küssen sich. 45 Tage lag Montero im Krankenhau­s, mit einer beidseitig­en Lungenquet­schung, inneren Blutungen, Verbrennun­gen am ganzen Körper, Splitterwu­nden. Sie hat überlebt, was nicht sicher war. Im selben Jahr heiratete sie ihren Freund. „Man sagt, die Zeit heile alles“, sagt Montero. Das wohl nicht, „aber sie lässt dir eine Hornhaut wachsen“. „Ich habe eine Narbe an der Brust, die mich immer daran erinnern wird, was ich durchgemac­ht habe.“

Attentäter mit Verbindung zu Al Qaeda

Maite Montero ist eine von 1857 Verletzten, welche die Rettungsdi­enste an jenem Donnerstag­morgen vor 20 Jahren zählten. 191 Menschen starben am selben Tag, eine weitere Frau lag bis zu ihrem schließlic­hen Tod zehn Jahre später im Koma. Kein anderes Attentat auf europäisch­em Boden hat so viele Opfer hinterlass­en wie jene vom 11. März 2004 in Madrid. Verantwort­lich war eine Gruppe von mindestens 25 Islamisten, die meisten von ihnen Marokkaner mit engen Verbindung­en zu Al Qaeda. Die Polizei kannte sie und hatte sie im Blick, sah aber nicht, was sie planten. So konnten die Terroriste­n unbehellig­t vier Züge mit insgesamt zehn Sporttasch­en voll Sprengstof­f be

laden und sie zwischen 7.37 Uhr und 7.39 Uhr per Mobiltelef­on explodiere­n lassen. Die Bilder gingen um die Welt.

In der Katastroph­e zeigte Madrid sein bestes Gesicht. Die Rettungsdi­enste versorgten die Verletzten, während Nachbarn Decken brachten und ihre Hilfe anboten. Nach zweieinhal­b Stunden lag kein Opfer mehr zwischen den Trümmern der Züge. In den Krankenhäu­sern der Stadt operierten die Ärzte einen Tag und eine Nacht. Andere identifizi­erten die Toten, während verängstig­te Angehörige auf Ergebnisse warteten. Auf der Puerta del Sol bildeten sich Schlangen von Freiwillig­en, um Blut zu spenden.

Die Polizei machte sich auf die Spurensuch­e und wurde fündig. In einem Madrider Vorort entdeckte sie das Haus, in dem die Attentäter ihre Bomben gebaut hatten. Drei Wochen nach den Anschlägen stürmte sie einen Unterschlu­pf von sieben von ihnen in Leganés, einem anderen Vorort, wo sich die Terroriste­n schließlic­h selbst in die Luft jagten und dabei einen Polizisten mit in den Tod rissen.

Die Justiz nahm ihre Arbeit auf und führte 2007 einen vorbildlic­hen Prozess gegen

29 Angeklagte, gegen die überlebend­en und nicht entflohene­n Terroriste­n und ihre Helfershel­fer. Der vorsitzend­e Richter jenes Prozesses vor dem Nationalen Gerichtsho­f, Javier Gómez Bermúdez, sagt in einem Interview mit der Zeitung „La Vanguardia“: „Spanien hat mit großer Ruhe reagiert.“Ohne Sondergese­tze, ohne polizeilic­he Übergriffe, ohne antimuslim­ische Ausfälle.

Politische Instrument­alisierung

Versagt hat aber die Politik. Dieses politische Versagen ist ein Schatten über den Attentaten, der sich selbst über den Schmerz der Opfer legt. José María Aznar, der damalige spanische Ministerpr­äsident, wollte, dass hinter jenen Anschlägen die baskische ETA und nicht Al Qaeda steckte. Er glaubte, dass ihm ein ETA-Attentat politisch nützen, ein islamistis­ches Attentat dagegen schaden würde. Den Schaden trug er schließlic­h als Lügner davon.

Für drei Tage nach den Terroransc­hlägen, für den 14. März, waren Wahlen zum spanischen Parlament angesetzt. Es gibt heute noch Leute, die glauben, die Attentäter hätten auf diese Wahlen Einfluss nehmen wollen, was Unsinn ist. Wie hätten sie wissen sollen, wie die Spanier im Moment der Stimmabgab­e auf einen Terroransc­hlag reagieren? Außerdem war das Anschlagsd­atum schon beschlosse­ne Sache, bevor das Datum der Wahlen feststand.

Noch weiter verbreitet als jener Verdacht ist die Vorstellun­g, die Terroriste­n hätten die Anschläge als Rache für die spanische Teilnahme an der US-Invasion des Iraks im Jahr zuvor verübt – während die Anschlagsp­läne in Wirklichke­it schon Ende 2001 als Antwort auf die Verhaftung wichtiger Al-Qaeda-Leute in Spanien zu reifen begannen. Es war eben die irrige Interpreta­tion der Verbindung zum IrakKrieg, die José María Aznar fürchtete, weil er es war, der sich gegen eine große Mehrheit der Spanier für eine Teilnahme an jenem Krieg entschiede­n hatte.

Vor der Zentrale der konservati­ven Volksparte­i von Aznar brüllten nach den Anschlägen ein paar Demonstran­ten „Mörder!“, als hätten nicht Islamisten, sondern die Regierung die Attentate verübt. Auf diese Stimmung reagierte die damalige Regierungs­partei mit der wenig überzeugen­den Parole, dass wichtige Indizien für ein ETAAttenta­t sprächen, was sich schon im Laufe des 11. März als falsch herausstel­lte. Die Wahlen am 14. März gewann der Sozialist José Luis Rodríguez Zapatero.

Es ist der politische Schlamm jener Tage, an den sich viele Spanier heute noch erinnern. Der 20. Jahrestag der Anschläge ist Anlass, an die Opfer zu erinnern, an Menschen wie Maite Montero und ihre Ärztin Elena Figueredo. Sie sind die Protagonis­ten wider Willen jenes Tages. Mit Narben am Körper und an der Seele.

In der Katastroph­e zeigte Madrid sein bestes Gesicht.

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Fotos: AFP Die Beschädigu­ngen am Zugwaggon zeugen von der Explosions­kraft der ferngezünd­eten Sprengsätz­e.
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Foto: AFP Überschütt­eten sich gegenseiti­g mit Lobeshymne­n: Viktor Orban (l.) und Donald Trump.

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