55 Tage in der Gewalt der Terroristen
Zwei ehemalige israelische Geiseln der Hamas treten in Luxemburg für die Freilassung der verbliebenen Leidensgenossen ein
Es ist nur eine schlichte Kette. Doch für Nili Margalit ist das Stück Metall viel mehr; wie einen Talisman hält sie es umklammert. Auf den ersten Blick scheint es so, als handle es sich hier um eine echte Erkennungsmarke, wie sie von Soldaten getragen wird, um sie im Fall ihres Todes zweifelsfrei identifizieren zu können.
Auch Shani Goren trägt eine solche Kette, einige ihrer Begleiter von „Coopération Luxembourg Israel Asbl“ebenfalls. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es sich nicht um individuelle Erkennungsmarken handelt, sondern dass sie alle die gleiche Botschaft tragen. „Unser Herz ist in Gaza gefangen“, steht dort auf Hebräisch geschrieben.
Es war ein langer Tag für Shani Goren und Nili Margalit; die Erschöpfung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Gegenüber mehreren aktiven und früheren Chamberund Europaabgeordneten sowie im Gespräch mit Vertretern des Staats-, Justizund Außenministeriums haben sie ihre Geschichte erzählt.
Seit ihrer Freilassung aus der Gewalt der Hamas setzen sie sich mit ganzer Kraft für ein Ziel ein, das ebenfalls auf der Erkennungsmarke aufgedruckt ist. Unter der Sollbruchstelle folgt auf Englisch die Kernbotschaft: „Bring them home now!“Bringt sie jetzt nach Hause, die verbliebenen knapp 130 Geiseln im Gazastreifen.
Es beginnt mit einem Luftalarm
Es ist Freitagnachmittag, und ein letztes Mal an diesem Tag müssen die beiden Frauen gedanklich zurück in die furchtbarste Phase ihres Lebens. Vor luxemburgischen Zeitungsjournalisten erzählen sie vom 7. Oktober 2023, der ihr Land Israel traumatisiert hat.
Um 6.30 Uhr gibt es an diesem Samstag Luftalarm. Das ist eigentlich nichts Außergewöhnliches für die Menschen in Nir Oz. „Das passiert sehr oft in Israel“, erklärt Nili Margalit. Der 400-Seelen-Ort ist ein Kibbuz, eine genossenschaftlich organisierte Siedlung, die 1955 gegründet wurde, und die noch heute auf gemeinschaftlichem landwirtschaftlichem Anbau und basisdemokratischen Strukturen basiert. Für die Bewohnerinnen und Bewohnern jahrzehntelang ein kleines, grünes Paradies am Rand der Negev-Wüste. Doch aufgrund seiner Nähe zum Gaza-Streifen, von wo aus immer wieder Raketen abgefeuert werden, haben die Menschen eine Routine entwickelt.
Umgehend eilen die Bewohner in ihre Sicherheitsräume. „In den letzten Minuten gab es schweres Feuer auf die Gemeinden der Region und auf ganz Israel“, erfahren sie aus einem Gruppenchat. Doch schon bald wird den Betroffenen klar, dass das hier mehr ist als der übliche Raketenterror.
Das für Viele schier Unvorstellbare geschieht: Terroristen erobern das Gelände des Kibbuz. Den Bewohnern bleibt nichts
Sie sind in unserem Haus! Bewohner des Kibbuz Nir Oz
Anderes übrig, als auszuharren. „Zwei Terroristen auf einem Motorrad sind auf der Ringstraße“, heißt es um kurz nach acht im Gruppenchat. Im Laufe der nächsten Stunden werden die Nachrichten immer verzweifelter. „Sie sind in unserem Haus“, schreibt jemand, oder: „Wo ist die Armee????“Und schließlich: „Sie brennen unser Haus nieder!“
Das Unvorstellbare geschieht
Erst am Nachmittag trifft die israelische Armee in Nir Oz ein. Zu diesem Zeitpunkt sind etwa 40 Bewohner tot, mehr als 70 wurden verschleppt. Das Haus von Nili Margalit wird um neun Uhr morgens aufgebrochen. Die Terroristen zerren sie aus dem Schutzraum und bringen sie mit anderen Geiseln in den Gazastreifen. „Mein Verstand war blockiert, ich tat, was sie von mir erwartet haben“, berichtet die 40-Jährige.
Gegen 11.15 Uhr brechen die Terroristen auch die Tür des Sicherheitsraums von Shani Goren auf und werfen eine Granate ins Innere. Doch sie zündet nicht, weshalb sie die 29-jährige Lehrerin und Jugendberaterin entführen. Eine Freundin, mit der sie am telefonieren war, bekommt die traumatische Situation live mit.
Nili Margalit wird noch am selben Tag in einen Tunnel verfrachtet, wo auch viele ältere Menschen aus ihrem Kibbuz eingepfercht werden. Die Luft ist stickig, es ist dreckig, es gibt nur wenig zu essen, die Toilette hat kein fließendes Wasser und es sind nicht genügend Matratzen verfügbar. Als Krankenschwester kümmert sich Nili Margalit um die Älteren, die mit Herzproblemen, Bluthochdruck, Asthma und anderen Krankheiten zu kämpfen haben.
Viele der Geiseln bräuchten individuelle Medikamente, doch die sind nicht vorhanden. „Erst nach vier, fünf Tagen haben sie uns Medikamente gebracht, die aber nicht speziell auf die Personen ausgerichtet waren“, erinnert sich die Krankenschwester.
Shani Goren stockt einen Moment, dann erzählt sie von der Fahrt in den Gazastreifen. Mehrere Geiseln, die sich mit ihr in dem Truck befinden, sind verletzt. Im Gazastreifen werden sie in ein Haus gebracht, nach zwei Wochen dann in einen viel zu kleinen Raum in einem Hospital verfrachtet. Die junge Lehrerin kümmert sich um Kinder, die von ihren Eltern getrennt
Wir wussten nichts über die Ausmaße des 7. Oktober. Shani Goren
wurden. Viermal wird sie innerhalb der Klinik verlegt; zu Essen gibt es in all den Tagen nie genug.
Die quälende Ungewissheit
Was an den Nerven nagt, ist die Ungewissheit. „Wir wussten nichts über die Ausmaße des 7. Oktober“, sagt Shani Goren. Irgendwann sei ein Kind von den Terroristen gezwungen worden, Videos von Vergewaltigungen und Morden zu schauen. Nach und nach erahnen Shani Goren und ihre Mitgefangenen so die Dimensionen des Terroraktes, bei dem rund 1.200 Menschen ermordet und knapp 240 Menschen entführt wurden.
„Das Einzige, über das man nachdenkt, ist überleben“, sagt Nili Margalit mit Blick auf die endlosen Tage und Nächte im Tunnel. Wie ein Mantra hätten sie diese eine Botschaft Stunde um Stunde wiederholt: „Wir werden überleben“.
Dass im November 2023 hinter den Kulissen fieberhaft an einem Deal gearbeitet wird, wissen die Geiseln nicht. Schließlich kommt es zu einer vorübergehenden Waffenruhe; Israel entlässt 240 palästinensische Gefangene, die Gaza gibt daraufhin 105 Geiseln frei.
Shani Goren und Nili Margalit müssen bis zuletzt bangen, sie zählen zur letzten Gruppe, die den Gazastreifen verlassen darf. Knapp 130 israelische und ausländische Staatsangehörige verbleiben in der Gewalt der Terroristen.
Erst jetzt, nach 55 Tagen, erfährt Nili Margalit, dass ihr Vater dem Angriff zum Opfer gefallen ist. Zu der Trauer kommen Schuldgefühle gegenüber jenen älteren Geiseln, die zurückgeblieben sind. Shani Goren kann ihre wiedergewonnene Freiheit ebenfalls nur sehr eingeschränkt genießen, denn einige ihrer besten Freunde sitzen noch immer in den Tunneln der Hamas.
Die Mission erfüllt
„Mein Haus war für mich der schönste Platz auf der Welt, ich wusste, wann jede einzel
ne Blume im Garten blüht“, sagt Nili Margalit mit wehmütiger Stimme. Auch nach einem halben Jahr ist ihr Kibbuz noch immer unbewohnbar, die Einwohner wurden evakuiert. Ob sie einmal dorthin zurückkehren kann, weiß sie nicht.
Überhaupt fällt es der Krankenschwester schwer, an die Zukunft zu denken, wo doch die Vergangenheit noch nicht abgeschlossen ist: „Ich denke darüber nicht nach, meine einzige Priorität ist, die verbliebenen Geiseln zu befreien“, betont sie.
Ob sie nach allem, was geschehen ist, noch immer an die Möglichkeit eines Friedens glaubt, werden die beiden Frauen gefragt. „Ich bin aufgewachsen mit dem Glauben an Frieden“, erzählt Nili Margalit. Doch jetzt sei alles zerbrochen. Dennoch bekräftigt sie: „Ich will an Frieden glauben, ehrlich, aber ich weiß nicht, ob er wiederkehren kann.“Bis jetzt hat die 40-Jährige ihre Tränen zurückgehalten. Nun ist der Moment gekommen, wo die Emotionen zu stark sind. Nili Margalit und Shani Goren beantworten noch einige Fragen, dann ziehen sich die beiden israelischen Frauen in ihre Hotelzimmer zurück. Für heute haben die beiden jungen Israelis, die das Leben zu Botschafterinnen wider Willen gemacht hat, ihre Mission erfüllt.
Ich will an Frieden glauben, ehrlich, aber ich weiß nicht, ob er wiederkehren kann. Nili Margalit