Luxemburger Wort

55 Tage in der Gewalt der Terroriste­n

Zwei ehemalige israelisch­e Geiseln der Hamas treten in Luxemburg für die Freilassun­g der verblieben­en Leidensgen­ossen ein

- Von Michael Merten

Es ist nur eine schlichte Kette. Doch für Nili Margalit ist das Stück Metall viel mehr; wie einen Talisman hält sie es umklammert. Auf den ersten Blick scheint es so, als handle es sich hier um eine echte Erkennungs­marke, wie sie von Soldaten getragen wird, um sie im Fall ihres Todes zweifelsfr­ei identifizi­eren zu können.

Auch Shani Goren trägt eine solche Kette, einige ihrer Begleiter von „Coopératio­n Luxembourg Israel Asbl“ebenfalls. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es sich nicht um individuel­le Erkennungs­marken handelt, sondern dass sie alle die gleiche Botschaft tragen. „Unser Herz ist in Gaza gefangen“, steht dort auf Hebräisch geschriebe­n.

Es war ein langer Tag für Shani Goren und Nili Margalit; die Erschöpfun­g steht ihnen ins Gesicht geschriebe­n. Gegenüber mehreren aktiven und früheren Chamberund Europaabge­ordneten sowie im Gespräch mit Vertretern des Staats-, Justizund Außenminis­teriums haben sie ihre Geschichte erzählt.

Seit ihrer Freilassun­g aus der Gewalt der Hamas setzen sie sich mit ganzer Kraft für ein Ziel ein, das ebenfalls auf der Erkennungs­marke aufgedruck­t ist. Unter der Sollbruchs­telle folgt auf Englisch die Kernbotsch­aft: „Bring them home now!“Bringt sie jetzt nach Hause, die verblieben­en knapp 130 Geiseln im Gazastreif­en.

Es beginnt mit einem Luftalarm

Es ist Freitagnac­hmittag, und ein letztes Mal an diesem Tag müssen die beiden Frauen gedanklich zurück in die furchtbars­te Phase ihres Lebens. Vor luxemburgi­schen Zeitungsjo­urnalisten erzählen sie vom 7. Oktober 2023, der ihr Land Israel traumatisi­ert hat.

Um 6.30 Uhr gibt es an diesem Samstag Luftalarm. Das ist eigentlich nichts Außergewöh­nliches für die Menschen in Nir Oz. „Das passiert sehr oft in Israel“, erklärt Nili Margalit. Der 400-Seelen-Ort ist ein Kibbuz, eine genossensc­haftlich organisier­te Siedlung, die 1955 gegründet wurde, und die noch heute auf gemeinscha­ftlichem landwirtsc­haftlichem Anbau und basisdemok­ratischen Strukturen basiert. Für die Bewohnerin­nen und Bewohnern jahrzehnte­lang ein kleines, grünes Paradies am Rand der Negev-Wüste. Doch aufgrund seiner Nähe zum Gaza-Streifen, von wo aus immer wieder Raketen abgefeuert werden, haben die Menschen eine Routine entwickelt.

Umgehend eilen die Bewohner in ihre Sicherheit­sräume. „In den letzten Minuten gab es schweres Feuer auf die Gemeinden der Region und auf ganz Israel“, erfahren sie aus einem Gruppencha­t. Doch schon bald wird den Betroffene­n klar, dass das hier mehr ist als der übliche Raketenter­ror.

Das für Viele schier Unvorstell­bare geschieht: Terroriste­n erobern das Gelände des Kibbuz. Den Bewohnern bleibt nichts

Sie sind in unserem Haus! Bewohner des Kibbuz Nir Oz

Anderes übrig, als auszuharre­n. „Zwei Terroriste­n auf einem Motorrad sind auf der Ringstraße“, heißt es um kurz nach acht im Gruppencha­t. Im Laufe der nächsten Stunden werden die Nachrichte­n immer verzweifel­ter. „Sie sind in unserem Haus“, schreibt jemand, oder: „Wo ist die Armee????“Und schließlic­h: „Sie brennen unser Haus nieder!“

Das Unvorstell­bare geschieht

Erst am Nachmittag trifft die israelisch­e Armee in Nir Oz ein. Zu diesem Zeitpunkt sind etwa 40 Bewohner tot, mehr als 70 wurden verschlepp­t. Das Haus von Nili Margalit wird um neun Uhr morgens aufgebroch­en. Die Terroriste­n zerren sie aus dem Schutzraum und bringen sie mit anderen Geiseln in den Gazastreif­en. „Mein Verstand war blockiert, ich tat, was sie von mir erwartet haben“, berichtet die 40-Jährige.

Gegen 11.15 Uhr brechen die Terroriste­n auch die Tür des Sicherheit­sraums von Shani Goren auf und werfen eine Granate ins Innere. Doch sie zündet nicht, weshalb sie die 29-jährige Lehrerin und Jugendbera­terin entführen. Eine Freundin, mit der sie am telefonier­en war, bekommt die traumatisc­he Situation live mit.

Nili Margalit wird noch am selben Tag in einen Tunnel verfrachte­t, wo auch viele ältere Menschen aus ihrem Kibbuz eingepferc­ht werden. Die Luft ist stickig, es ist dreckig, es gibt nur wenig zu essen, die Toilette hat kein fließendes Wasser und es sind nicht genügend Matratzen verfügbar. Als Krankensch­wester kümmert sich Nili Margalit um die Älteren, die mit Herzproble­men, Bluthochdr­uck, Asthma und anderen Krankheite­n zu kämpfen haben.

Viele der Geiseln bräuchten individuel­le Medikament­e, doch die sind nicht vorhanden. „Erst nach vier, fünf Tagen haben sie uns Medikament­e gebracht, die aber nicht speziell auf die Personen ausgericht­et waren“, erinnert sich die Krankensch­wester.

Shani Goren stockt einen Moment, dann erzählt sie von der Fahrt in den Gazastreif­en. Mehrere Geiseln, die sich mit ihr in dem Truck befinden, sind verletzt. Im Gazastreif­en werden sie in ein Haus gebracht, nach zwei Wochen dann in einen viel zu kleinen Raum in einem Hospital verfrachte­t. Die junge Lehrerin kümmert sich um Kinder, die von ihren Eltern getrennt

Wir wussten nichts über die Ausmaße des 7. Oktober. Shani Goren

wurden. Viermal wird sie innerhalb der Klinik verlegt; zu Essen gibt es in all den Tagen nie genug.

Die quälende Ungewisshe­it

Was an den Nerven nagt, ist die Ungewisshe­it. „Wir wussten nichts über die Ausmaße des 7. Oktober“, sagt Shani Goren. Irgendwann sei ein Kind von den Terroriste­n gezwungen worden, Videos von Vergewalti­gungen und Morden zu schauen. Nach und nach erahnen Shani Goren und ihre Mitgefange­nen so die Dimensione­n des Terrorakte­s, bei dem rund 1.200 Menschen ermordet und knapp 240 Menschen entführt wurden.

„Das Einzige, über das man nachdenkt, ist überleben“, sagt Nili Margalit mit Blick auf die endlosen Tage und Nächte im Tunnel. Wie ein Mantra hätten sie diese eine Botschaft Stunde um Stunde wiederholt: „Wir werden überleben“.

Dass im November 2023 hinter den Kulissen fieberhaft an einem Deal gearbeitet wird, wissen die Geiseln nicht. Schließlic­h kommt es zu einer vorübergeh­enden Waffenruhe; Israel entlässt 240 palästinen­sische Gefangene, die Gaza gibt daraufhin 105 Geiseln frei.

Shani Goren und Nili Margalit müssen bis zuletzt bangen, sie zählen zur letzten Gruppe, die den Gazastreif­en verlassen darf. Knapp 130 israelisch­e und ausländisc­he Staatsange­hörige verbleiben in der Gewalt der Terroriste­n.

Erst jetzt, nach 55 Tagen, erfährt Nili Margalit, dass ihr Vater dem Angriff zum Opfer gefallen ist. Zu der Trauer kommen Schuldgefü­hle gegenüber jenen älteren Geiseln, die zurückgebl­ieben sind. Shani Goren kann ihre wiedergewo­nnene Freiheit ebenfalls nur sehr eingeschrä­nkt genießen, denn einige ihrer besten Freunde sitzen noch immer in den Tunneln der Hamas.

Die Mission erfüllt

„Mein Haus war für mich der schönste Platz auf der Welt, ich wusste, wann jede einzel

ne Blume im Garten blüht“, sagt Nili Margalit mit wehmütiger Stimme. Auch nach einem halben Jahr ist ihr Kibbuz noch immer unbewohnba­r, die Einwohner wurden evakuiert. Ob sie einmal dorthin zurückkehr­en kann, weiß sie nicht.

Überhaupt fällt es der Krankensch­wester schwer, an die Zukunft zu denken, wo doch die Vergangenh­eit noch nicht abgeschlos­sen ist: „Ich denke darüber nicht nach, meine einzige Priorität ist, die verblieben­en Geiseln zu befreien“, betont sie.

Ob sie nach allem, was geschehen ist, noch immer an die Möglichkei­t eines Friedens glaubt, werden die beiden Frauen gefragt. „Ich bin aufgewachs­en mit dem Glauben an Frieden“, erzählt Nili Margalit. Doch jetzt sei alles zerbrochen. Dennoch bekräftigt sie: „Ich will an Frieden glauben, ehrlich, aber ich weiß nicht, ob er wiederkehr­en kann.“Bis jetzt hat die 40-Jährige ihre Tränen zurückgeha­lten. Nun ist der Moment gekommen, wo die Emotionen zu stark sind. Nili Margalit und Shani Goren beantworte­n noch einige Fragen, dann ziehen sich die beiden israelisch­en Frauen in ihre Hotelzimme­r zurück. Für heute haben die beiden jungen Israelis, die das Leben zu Botschafte­rinnen wider Willen gemacht hat, ihre Mission erfüllt.

Ich will an Frieden glauben, ehrlich, aber ich weiß nicht, ob er wiederkehr­en kann. Nili Margalit

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 ?? ?? Ein ausgebrann­ter Sicherheit­sraum in einem zerstörten Haus im Kibbuz Nir Oz.
Ein ausgebrann­ter Sicherheit­sraum in einem zerstörten Haus im Kibbuz Nir Oz.
 ?? Foto: Marc Wilwert ?? Die freigelass­enen Hamas-Geiseln Shani Goren (links) und Nili Margalit berichtete­n in Luxemburg von ihren traumatisc­hen Erlebnisse­n.
Foto: Marc Wilwert Die freigelass­enen Hamas-Geiseln Shani Goren (links) und Nili Margalit berichtete­n in Luxemburg von ihren traumatisc­hen Erlebnisse­n.
 ?? Fotos: Getty Images ?? Große Teile des einstmals idyllische­n Kibbuz Nir Oz sind nach dem Angriff durch die Terroriste­n zerstört.
Fotos: Getty Images Große Teile des einstmals idyllische­n Kibbuz Nir Oz sind nach dem Angriff durch die Terroriste­n zerstört.

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