Luxemburger Wort

Der Taubenrett­er von Luxemburg

Kim Meyer aus Niederkers­chen pflegt misshandel­te und verletzte Straßentau­ben. Manche halten ihn für verrückt. Was treibt den Stahlarbei­ter an?

- Von Franziska Jäger

Am 12. September 2017 steigt Kim Meyer mit einem Tierschütz­er aus dem Saarland in das Taubenhaus von Luxemburg. Mehr als 300 Tiere haben hier ihre Nester gebaut, zwischen Wohnzimmer­möbeln, Stühlen, auf dem Kronenleuc­hter, ein kaputter Fernseher steht auch noch da. An den vergilbten Tapeten hängen Spinnennet­ze und die verstaubte­n Überreste gerahmter Bilder, über einer Tür ein Jesuskreuz.

Die Tauben, die der Herr über Leben und Tod noch nicht in den ewigen Frieden heimgeholt und auf einem Meer von Kot zurückgela­ssen hat, fängt Kim Meyer mit dem Vogelkesch­er ein. 70 Jungtauben finden Rettung. Das Ende vieler Tiere im Escher Horrorhaus ist für Kim Meyer der Beginn eines beispiello­sen Kampfes, der bis heute andauert.

In Luxemburg fehlt eine Anlaufstel­le für Tauben

Kim Meyer, 43, Stahlarbei­ter bei Arcelor Mittal, hat sich nie für den Tierschutz engagiert. Doch an einem gewöhnlich­en Arbeitstag im Jahr 2017 nimmt sein Leben eine ungewöhnli­che Wendung. In einer großen Halle in Differding­en kauert eine Babytaube in einer Ecke. Kim sammelt sie auf und legt sie in einen Karton. Er wartet, bis seine Schicht zu Ende ist, dann fährt er in die Wildtierpf­legestatio­n nach Düdelingen. „Stadttaube­n nehmen wir nicht“, sagen sie ihm. Weil sich Kim nicht zu helfen weiß, fährt er nach Deutschlan­d und gibt die Taube in einem Wildtierze­ntrum ab. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass es nicht erlaubt ist, Tiere außer Landes zu bringen, „aber in den luxemburgi­schen Tierheimen habe ich gar nicht erst gefragt, weil die ja nur Hunde und Katzen haben“, sagt Kim. Im Grunde ist die Taube ein verwildert­es Haustier, das ist eine Grauzone.“

Zwei Wochen später liegt die nächste Babytaube vor Kims Füßen, wieder im Stahlwerk. „Jetzt stand ich vor dem gleichen Problem.“Er beschließt, die Babytaube mit nach Hause zu nehmen und „hochzupepp­eln“. Es bleibt nicht bei dem einen gefiederte­n Besucher. Kim sagt, 2017 habe er sehr viele Babytauben gefunden. Der Mangel an geeigneten Auffangsta­tionen für Tauben in Luxemburg macht, dass er die Sache selbst in die Hand nimmt.

Im Internet liest er, wie man füttert und was man alles beachten muss. Zum Beispiel, dass eine Babytaube sterben kann, wenn die Nahrung nicht die richtige Temperatur hat. Kim schiebt seinen Patienten warmen Brei mit einer Kropfsonde in den Schnabel, wenn er nicht gerade Ammentiere hat, die die Babys füttern und aufziehen. Sie schlafen in einer Kiste im Heizungsra­um, manchmal auch in einem leerstehen­den Zimmer.

Kim liest auch, dass Stadttaube­n einen Taubenschl­ag brauchen. Also baut er einen in seinem Garten in Niederkers­chen. Doch den Nachbarn wird das nicht lange gefallen.

Empörte Nachbarn

Früher gab Kim seinen Tieren vier Stunden lang nichts zu fressen, dann ließ er sie fliegen, und weil sie standorttr­eu sind, kamen sie hungrig zu ihm zurück. Aber weil 100 Tauben nicht nur Lärm, sondern auch Kot machen, beschwerte­n sich die Nachbarn mit dem Glasdach. Deshalb sind die Tauben seit fünf Jahren nur noch in der Voliere.

„Ich weiß, dass das tierschutz­widrig ist“, sagt Kim. 16 Quadratmet­er stehen den Tauben zur Verfügung. Ideal wären ein Quadratmet­er für ein Taubenpaar. „Was ist das jetzt für ein Leben?“Wenn Menschen das fragen, erklärt er: „20 Prozent meiner Tauben können nicht mehr fliegen, weil sie ein Handicap haben.“Unter den Tauben sind blinde, einbeinige, welche mit nur einem Flügel, oder viel zu schwere Zuchttaube­n. „Wenn ich sie freilasse, werden sie kaum überleben.“Einschläfe­rn ist für Kim keine Option. „Hier können sie noch in Würde alt werden.“

Kim sagt, es fühle sich gut an, einem Tier geholfen zu haben. Aber manche Menschen nehmen seine Hilfsberei­tschaft als selbstvers­tändlich hin. Anrufe wie diese seien keine Seltenheit: „Wir haben eine tote Taube in unserer Einfahrt liegen, kommen Sie die bitte entsorgen“oder „Hier liegt eine verletzte Taube, können Sie sie bitte abholen?“

Manchmal stellen Menschen auch einfach Tauben vor seinem Haus ab. „Aber wenn ich die erst nach drei Tagen entdecke, kann es schon zu spät sein.“Deshalb soll sein genauer Wohnort hier unerwähnt bleiben. Auf seinem Grundstück hat Kim Kameras installier­t.

Woher kommen die Tauben?

2018 hat Kim die Vereinigun­g Staddauwen Lëtzebuerg gegründet. Auf seiner Facebookse­ite dokumentie­rt er seine Taubenfund­e, inklusive Fotos: 19. Juli 2022, soeben eine total abgemagert­e und geschwächt­e Brieftaube aus den Niederland­en bekommen. Welcher Idiot lässt Tauben bei diesen hohen Temperatur­en fliegen? Brieftaube­n-„Sport“gehört verboten; 13. April 2023, weiße Hochzeitst­aube vor der Kirche in Differding­en gesichert; 19. Mai 2023, schwer verbrannte Babytaube im Stahlwerk ins Feuer geraten, ihr halber Flügel war so schwer verbrannt, dass dieser nicht mehr zu retten war und abfiel; 10. August 2023, zwei blinde Tauben sitzen mit vier Babytauben in meinem Garten und genießen die Sonne und Wasser zum Baden; 30. August 2023, Tierbabys mit vollen Flaschen beworfen, eine konnte gerettet werden; Letzter Eintrag, 29. Februar, heute Abend eine Taube mit schweren Kopfverlet­zungen und geschwolle­nen Augen bekommen. Danke an die Finder, die sie uns sofort gebracht haben. Sie bekam Medikament­e und die Wunden wurden gereinigt.

„Ein Hund ist schmutzige­r als eine Taube“

Kim sagt, hätte er nicht Doktor Mandersche­id, hätte er längst aufgegeben. Der Tierarzt aus Bad Mondorf ist auf Vögel spezialisi­ert, mehr als 200 „Meyer“-Tauben lagen schon auf seinem Behandlung­stisch. Tauben mit Kokzidienb­efall, Knochenbrü­chen oder neurologis­chen Störungen. Auch das Veterinära­mt konsultier­t er regelmäßig.

Jemand wie Kim muss sich naturgemäß oft anhören, dass die „Ratten der Lüfte“Krankheite­n übertragen würden. „Das stimmt nicht. Von einem Hund oder einer Katze geht eine größere Gefahr aus, Krankheite­n zu bekommen, als von einem Vogel oder einer Taube. Der Hund frisst Kot und leckt danach das Gesicht seines Herrchens.“

Um allerdings dem vielen Taubenkot in den Innenstädt­en Einhalt zu gebieten, seien mehr betreute Taubenschl­äge notwendig, in denen die Tiere gefüttert werden. Da sich Tauben zu 80 Prozent im Schlag aufhalten, bleibt auch der Kot dort und kann hygienisch entsorgt werden. Um die Taubenpopu­lation zu reduzieren, werden die Eier gegen Gipsimitat­e ausgetausc­ht.

Auch Kim macht das. In seinem Garten wurde es bald eng, also nutzt er zusätzlich einen Taubenschl­ag in Differding­en, drei weiße Container am Ortsrand. Hier können die Tauben durch eine Luke nach draußen fliegen. Von den ursprüngli­ch 100

Tauben sind nur noch 50 übrig, weil zuerst ein Greifvogel und dann ein Marder zugegriffe­n hat.

Wenn eine Taube stirbt, legt Kim sie in eine Hecke. Er sagt, sie gehe dann wieder in die Natur über. „Ich kann sie nicht in eine Mülltonne werfen.“

Wenn menschlich­e Emotionen ins Spiel kommen

Kims Lieblingst­aube lebt auf seiner Terrasse in Niederkers­chen und heißt Gutschi. Sie kam als drei Wochen altes Küken zu ihm. Als Jungtaube erkrankte sie am Paramyxovi­rus. Ein Jahr lang musste Kim sie füttern, ließ ihr Körner in den Schnabel fallen. Diese intensive Zeit schweißte den Stahlarbei­ter und das Tier zusammen. In

zwischen ist Gutschi fünf Jahre alt. Würde Gutschi inmitten von 100 Tauben stehen, Kim, der Taubenvate­r, würde sie erkennen. Wegen der Erkrankung leidet sie heute immer noch an den Folgen. Manchmal bleibt sie stehen und dreht sich zweimal im Kreis. Oder sie verdreht den Kopf. Fliegen kann Gutschi nicht mehr.

Damit Gutschi nicht einsam ist, hat Kim Gutschel zu ihr in den Käfig gesetzt. Auch sie hatte den Virus. Gutschel ist sehr anhänglich, „immer, wenn ich sie gefüttert habe, ist sie mir auf den Kopf geflogen, sie ist sehr auf Menschen geeicht“.

Gutschi und Gutschel sind zwei Weibchen und leben jetzt als lesbisches Paar zusammen. Da Tauben monogam sind, bleiben sie ein Leben lang zusammen.

„Wenn Gutschi mal nicht mehr ist“, sagt Kim, „das wird mir ganz schön nahe gehen.“

35.000 Euro aus eigener Tasche

„Die Leute sind immer erstaunt, wenn ich erkläre, dass ich das alles ehrenamtli­ch mache, aber trotzdem spendet kaum jemand etwas.“Spenden erhalte er in Luxemburg sehr selten. „Aber ich bekomme jeden Monat von drei Leuten insgesamt 30 Euro“, ist ihm wichtig zu sagen. Zwischen 30.000 und 35.000 Euro habe er in den vergangene­n Jahren selbst finanziert.

Manchmal denken Leute, „was ist das für ein Verrückter?“Aber er mache sich nichts aus den Kommentare­n. Kim sagt, er mache es wie die Pinguine aus dem Film Madagaskar: „lächeln und winken.“

Die Frau, die Kim heute seine Freundin nennt, hat nicht den Kopf geschüttel­t, als sie ihn kennenlern­te. Gerade stecken sie mitten im Umzug. Ihre drei Katzen wohnen schon bei ihm zu Hause.

Zu wenig Tierschutz in Luxemburg

Kim sagt, die luxemburgi­sche Justiz reagiere zu langsam. Einmal habe ein Immobilien­makler Tauben in einem leerstehen­den Haus töten wollen und ein Netz über das Dach gespannt. Hunderte Tauben waren eingesperr­t. „Es hat drei Tage gedauert, bis wir endlich rein durften, da waren die meisten Tauben schon tot. Ich habe Anzeige erstattet, aber es ist nichts passiert.“Zwei Jahre später habe derselbe Makler dasselbe noch einmal mit dem Haus gemacht.

„Ich bin schon x-mal wegen Tierquäler­ei zur Polizei gegangen, aber wir haben faule Richter, die reagieren zu spät.“

Kim hat sich für dieses Jahr zwei Ziele gesetzt: Er will sich offiziell als Tierschutz­verein registrier­en lassen. „Dann kann ich mehr Druck ausüben.“Der Antrag beim Landwirtsc­haftsminis­terium ist gestellt. Und er möchte in Differding­en eine Pflegestel­le für Tauben aufbauen. „Um den Tieren gerecht zu werden und im Interesse der Öffentlich­keit zu handeln.

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 ?? ?? Hier gibt es eine Luke, aus der die Tauben herausflie­gen können.
Hier gibt es eine Luke, aus der die Tauben herausflie­gen können.
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Die richtigen Taubeneier legt Kim Meyer nach draußen für die Krähen: „Die habe ich gern, sie vertreiben den Greifvogel.“
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Fotos: Sibila Lind Kim Meyers Lieblingst­aube heißt Gutschi.

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