Der Duft von Zimt
20
Sie brauchten sich kaum abzusprechen, so gut wussten sie beide, was sie zu tun hatten und wie sie einander helfen konnten. Auch heute beruhigte es Josephine, wie der weiße Mehlstaub in der einfallenden Morgensonne herumwirbelte, teigverschmierte Hände wie von allein zupackten, kneteten, wickelten und formten. Sie sog den dunklen, goldenen Duft von Brot und Rundstücken tief ein, genoss die Wärme, die sie die Novemberluft, die Kontinentalsperre und die Franzosen vergessen ließ, und schaffte es nach einer Weile sogar wieder, mit ihrem Onkel zu scherzen. Wenn er mit Josephine allein war, machte er gern den ein oder anderen gutmütigen Witz über seine Kundschaft. Er war ein genauer Beobachter, und die Fülle an Details, die er Tag für Tag sammelte, teilte er gern mit Josephine. Für sie gehörten diese kleinen Späße genauso zum Backhus wie das Brot, die Rundstücke und das Mehl, das sich nie vollständig aus ihren Haaren, von ihren Kleidern und den Möbelstücken entfernen ließ.
Die erste Kundin an diesem Tag war die Witwe Franz. „Einen guten Morgen“, grüßte sie. Ihre Stimme war nur ein Wispern, der Blick niedergeschlagen, die Hände hielt sie gefaltet.
„Frau Franz, guten Morgen. Was können wir für Sie tun?“, fragte Fritz und senkte die Stimme ebenfalls ein wenig. Dennoch zuckte die Witwe zusammen. Sie schluckte sichtlich und hauchte dann „Ein Kastenbrot, bitte“über die Theke. Onkel Fritz beugte sich weit zu ihr vor, um das Flüstern aufzufangen, und ganz kurz sahen sich die beiden dabei in die Augen. Schlagartig errötete Frau Franz und wich einen Schritt zurück.
Josephine legte den Kopf schief und beobachtete sie.
„Werte Nichte?“, riss Onkel Fritz sie aus ihren Gedanken. „Packst du das Brot bitte ein?“„Natürlich.“
Während Fritz abkassierte, übergab Josephine der schüchternen Witwe das viel zu klein geratene Brot.
Sobald die Glocke über der Tür klingelte und Frau Franz verschwunden war, kratzte sich Fritz am Kopf. „Die Witwe Franz muss ein außergewöhnlich gutes Gehör haben, deswegen spricht sie wohl so leise. Vielleicht bereite ich ihr mit meinem Gepolter Kopfschmerzen…“
Josephine verschränkte die Arme und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ich denke nicht, dass du ihr Kopfschmerzen bereitest, Onkel.“
„Nicht?“Er wischte über den Tresen und schob das Mehl dabei von einer Ecke in die andere.
„Nein, wenn ihr etwas wehtut, dann nur ihr Herz.“Er hielt inne. „Wie bitte?“
„Ich glaube, die Witwe hat eine Schwäche für dich.“
Jetzt richtete sich Onkel Fritz zu seiner vollen Größe auf und stemmte die Hände in die Hüfte. „So einen Unfug habe ich ja noch nie gehört!“
Sie lächelte ihn an. „Ich habe es genau gesehen, in ihren Augen. Glaub mir, sie ist verliebt. Wer will es ihr verdenken, ihr Mann ist seit über zwanzig Jahren tot! Sie war schrecklich jung, als er starb. Magst du sie denn nicht auch?“
„Also, jetzt gehst du aber zu weit!“, rief er und schlug mit seinem Lappen nach ihr, dem sie kichernd auswich. „Ich mag nichts und niemanden, außer einen guten Geduldzettel, merk dir das.“
Gründlicher als nötig wischte er nun auch die fast leeren Regalbretter ab. Während Josephine ihren Onkel von der Seite beobachtete, wunderte sie sich ein wenig. Hatte sie, ohne es zu wollen, einen wunden Punkt getroffen? Sie biss sich auf die Unterlippe und überlegte, ob sie sich entschuldigen sollte, doch da ging die Tür erneut auf, und Konrad trat herein, ausgestattet mit seiner französischen Soldatenuniform und seiner mitteldeutschen Zurückhaltung.
„Guten … Morgen“, krächzte er. „Guten Morgen Konrad“, sagte Fritz, genauso freundlich, wie er vorhin die Witwe begrüßt hatte. Er hatte schon oft zu Josephine gesagt, dass die Soldaten selbst keine Schuld traf. Weder die deutschen, italienischen, spanischen oder niederländischen Soldaten, die zu diesem Einsatz gezwungen worden seien, noch die französischen, die sich ebenfalls nicht ausgesucht hatten, auf welcher Seite sie in diesem Krieg gelandet waren.
„Du und ich haben das Glück, dass unser Schicksal uns Thielemanns Backhus beschert hat. Das sollte uns nicht zu Richtern über andere machen, die dieses Glück nicht hatten, merk dir das“, hatte er ihr erklärt.
Doch Josephine konnte nicht so denken wie er. Sobald sie eine der protzig bunten Uniformen sah, ergriff sie die Wut. Noch mehr, nachdem sie einige von ihnen gestern bei der Warenverbrennung hatte jubeln sehen.
„Hallo Herr Thielemann, Fräulein Thielemann …“Konrad nickte beiden höflich zu. „Ich habe leider … schlechte Neuigkeiten. Vielleicht ist es besser, wenn … wir darüber unter vier Augen sprechen, Herr Thielemann?“
Fritz nickte langsam. „Josephine, Liebes, gehst du bitte in die Backstube? Die nächsten Rundstücke müssten gleich fertig sein.“
„Natürlich.“Josephine senkte den Kopf und ging nach hinten. Während sie den Ofen öffnete und das heiße Backblech herauszog, versuchte sie, zumindest Fetzen des Gesprächs nebenan aufzuschnappen. Doch sie verstand kaum etwas zwischen dem Klappern, das sie selbst unweigerlich verursachte.
„Leider ja … wir müssen … strikte Anweisungen … es tut mir wirklich sehr …“
Schließlich hörte sie das Klingeln des Glöckchens und die sich wieder schließende Tür. Sofort eilte sie zurück in den Verkaufsraum und fand ihren Onkel starr wie einen verbrannten Teekuchen hinter dem Tresen stehend.
„Onkel Fritz?“, fragte sie vorsichtig.
Sein Gesicht war gerötet, die Ader an seinem Hals pochte. „Was ist mit dir?“
Als er noch immer nicht reagierte, trat sie einen Schritt an ihn heran und legte ihm die Hand an die Schulter. Er zuckte zusammen.