Der Favorit für die Erdogan-Nachfolge
Der türkische Staatschef kündigt für 2028 seinen Rückzug aus der Politik an – wieder einmal. Selcuk Bayraktar gilt als möglicher Erbe
Seit 22 Jahren bestimmt er die Geschicke der Türkei, zuerst als Premierminister und seit 2014 als Staatspräsident. Jetzt denkt Recep Tayyip Erdogan (70) offenbar über einen Abschied vom höchsten Staatsamt nach. Bei einer Kundgebung zur Kommunalwahl am 31. März sagte Erdogan am Wochenende in Istanbul, dies sei sein „letzter Wahlkampf“. Schon vor der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr hatte er angekündigt, er trete zum letzten Mal an und werde „die heilige Fahne an die Jugend weitergeben“.
Das war insofern keine Überraschung, weil Erdogan nach der Verfassung gar nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren kann. Politische Beobachter in Ankara bleiben dennoch skeptisch, ob er sich wirklich zurückziehen will.
Seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der das Land von 1923 bis 1938 führte, hat kein Politiker die moderne Türkei so geprägt wie Erdogan. Er hinterlässt allerdings ein widersprüchliches Erbe. In seinen ersten Jahren als Premierminister ebnete Erdogan mit innenpolitischen Reformen und der Entmachtung der Militärs den Weg zu Beitrittsverhandlungen mit der EU.
Doch der anfängliche Reformer legte immer autoritärere Züge an den Tag. Er schränkte demokratische Rechte ein, drangsalierte die Medien und gängelte die Justiz. Heute sitzen Zehntausende Regierungskritiker hinter Gittern. Mit der Verfassungsreform von 2018 verschaffte sich Erdogan eine Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staatsoder Regierungschef besitzt.
Eine durchwachsene Bilanz
Auch wirtschaftlich ist die Bilanz der Ära Erdogan durchwachsen: In seinen ersten zehn Regierungsjahren verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen, die Türkei stieg in den Kreis der 20 größten Wirtschaftsnationen auf. Aber seit Erdogan in den 2020er-Jahren immer mehr Einfluss auf die Geldpolitik nahm, geriet das Land in eine schwere Währungskrise. Investoren zogen sich zurück.
Mit der zunehmenden Islamisierung von Staat und Gesellschaft und der Demontage demokratischer Grundrechte entfernte Erdogan sein
Land in den vergangenen Jahren vom Westen. Er provozierte die Nato-Partner mit seiner Nähe zu Kremlchef Putin und der Blockade des schwedischen Beitritts. Zugleich ist allerdings die geostrategische Bedeutung der Türkei für die USA und Europa vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges und des wachsenden Migrationsdrucks in den vergangenen Jahren eher gewachsen. Das weiß Erdogan, und er nutzt es aus, etwa beim Poker um die Lieferung von US-Kampfflugzeugen.
Erdogan herrscht wie ein Autokrat. Auch die Entscheidung, wer ihm nachfolgt, wird er selbst treffen. Eines gilt als sicher: Die Macht muss in der Familie bleiben. Denn wenn Erdogan seine strafrechtliche Immunität als Präsident verliert, könnten Korruptionsvorwürfe aus der Vergangenheit wieder hochkommen. Deshalb ist es für ihn wichtig, dass die Familie Erdogan die Kontrolle behält.
Es bleibt in der Familie
Lange galt Schwiegersohn Berat Albayrak als Kronprinz. Er ist verheiratet mit Erdogans Tochter Esra. Erdogan berief ihn 2018 zum Finanzminister. Aber Albayrak scheiterte in dem Amt kläglich und trat nach zwei Jahren „aus Gesundheitsgründen“zurück. Jetzt kommt ein weiterer Erdogan-Schwiegersohn als möglicher Nachfolger ins Spiel: Selcuk Bayraktar, Vorsitzender und Cheftechniker des Rüstungsunternehmens Baykar, das sich weltweit mit der Herstellung von Kampfdrohnen einen Namen gemacht hat. Der 44-jährige, in den USA ausgebildete Ingenieur, verheiratet mit der Erdogan-Tochter Sümeyye, personifiziert für viele Menschen den Aufstieg der Türkei zu einer High-Tech-Nation. Er ist populär, hat rund drei Millionen Follower auf X.
Der „Herr der Drohnen“, wie ihn Medien nennen, zeigt bereits Interesse an einem Wechsel in die Politik: „Wenn es nötig ist, werde ich mich nicht drücken“, sagte er in einem Interview. Aber bis 2028 kann noch viel passieren. Vielleicht kommt Erdogan bis dahin zu der Ansicht, dass sein Land ihn länger braucht. Wenn er die Verfassung ändert oder ignoriert, könnte er für eine weitere Amtszeit kandidieren.