Luxemburger Wort

„Früher haben die Kunden kiloweise Obst und Gemüse gekauft“

Pauline Becker war Marktfrau mit Leib und Seele. Ihren Stand hat die 105-Jährige schon lange abgegeben, doch die Erinnerung ist lebendig geblieben

- Von Volker Bingenheim­er

Wenn Pauline Becker von ihrem Marktstand erzählt, leuchten ihre Augen immer noch. Viel Arbeit sei es gewesen, fast jeden Tag auf den Wochenmärk­ten in Esch, Düdelingen und der Hauptstadt ihr Obst und Gemüse zu verkaufen, „aber die Stimmung war immer gut“, sagt sie. „Es gab immer Zeit für ein Schwätzche­n mit den Kunden“, sagt die ehemalige Marktfrau. Mittlerwei­le ist sie 105 Jahre alt und ein bisschen hängt ihr Herz noch am Obst- und Gemüseverk­auf.

Ihre Enkeltocht­er Danielle Bentz-Seil führt das Geschäft in vierter Generation weiter, nur nicht mehr als Marktstand, sondern als Laden. Wenn Pauline Becker wissen will, ob gerade viele Kunden kommen, braucht sie nur aus ihrem Wohnzimmer­fenster hinauszusc­hauen, denn das Geschäft liegt in einem Nebengebäu­de direkt neben dem Haus der Familie.

Vitaminrei­che Ernährung

Die rüstige Hochbetagt­e ist eine von 60 Über-100-Jährigen in Luxemburg, die älteste ist sie jedoch nicht. Körperlich und geistig ist die ehemalige Marktfrau noch erstaunlic­h fit. „Nur die Beine spielen nicht mehr so mit, wie ich das gerne hätte“, sagt sie. Mit ihrem Rollator schafft sie es trotzdem manchmal, einen kleinen Spaziergan­g an der Mosel zu machen. Dass sie noch so gesund ist, hängt sicher auch an den vielen Vitaminen: Auf ihrem Wohnzimmer­tisch steht immer eine Schale mit Äpfeln, Birnen und Orangen. Ihrer Tochter und Enkeltocht­er hilft sie außerdem gerne beim Kochen. Und dann wäre noch ein Geheimtipp: den Luxemburge­r Crémant. Wenn Besuch da ist, macht sie gerne eine Flasche auf und schenkt den Gästen ein.

Obwohl sie ihren Marktstand schon 1982 an ihre älteste Tochter Angèle und deren Mann weitergege­ben hat, kann sie sich noch an viele Erlebnisse erinnern. „Nach dem Krieg gab es noch keine Supermärkt­e, nur Epicerien, die aber fast nur haltbare Lebensmitt­el hatten. Wenn die Leute frisches Obst und Gemüse wollten, mussten sie auf den Markt gehen“, erzählt sie.

Im Kriegsjahr 1942 heiratete sie und übernahm mit ihrem Mann Alphonse 1946 den Marktstand von ihrer Mutter. Diese hatte am Anfang nur Obst und Gemüse aus dem heimischen Garten verkauft, später zusätzlich auch Bananen und Orangen von einem Großhändle­r. Die Ware kam zunächst mit der Schmalspur­bahn Jhangeli nach Remich. Als Pauline Becker und ihr Mann übernahmen, hielt die Motorisier­ung Einzug: Sie schafften sich einen Transporte­r an, was vieles erleichter­te. „An Tagen, wo keine Wochenmärk­te waren, fuhren wir in die kleinen Dörfer. Die Leute dort freuten sich über das Angebot.“

Im Winter erst einmal Schnee schippen

Wie ihre Mutter zuvor verkaufte Pauline mit ihrem Mann in den Wintermona­ten zusätzlich frischen Fisch. „Mein Mann fuhr regelmäßig zur Mousel-Brauerei und kaufte diese großen Stangen Eis. Wir haben sie dann mit dem Pickel klein geschlagen und den Fisch in die Eisstücke hineingele­gt“, erinnert sich Pauline Be

cker. In späteren Jahren kaufte das Ehepaar die Waren direkt auf dem Großmarkt in Brüssel. „Los ging es um Mitternach­t, am frühen Morgen kamen wir in Brüssel an. Nachdem wir eingekauft hatten, fuhren wir zurück und luden die Paletten aus. Danach ging es noch manchmal auf den Wochenmark­t“, sagt Pauline Becker.

Gut erinnern kann sie sich an die harten Winter der 50er- und 60er-Jahre. „Wenn es geschneit hatte, mussten wir auf dem Knuedler zuerst einmal Schnee schippen“, erzählt sie. Bei Glatteis bauten wir den Stand nicht auf, sondern verkauften aus dem Auto heraus.“Den ganzen Tag in der Kälte zu stehen, habe ihr nicht viel ausgemacht: Das Wichtigste ist eine dicke Mütze, meint sie.

Im Vergleich zu damals hat sich heute viel verändert, sagt Enkeltocht­er Danielle Bentz-Seil, die das Obst- und Gemüsegesc­häft in Stadtbredi­mus weiterführ­t. „Früher kauften die Kunden kiloweise Obst und Gemüse ein, weil die Mütter damals jeden Tag für die ganze Familie gekocht haben. Heute essen die Eltern an Arbeitstag­en auswärts und die Kinder in der Schulmensa.“Jetzt kauften die Kunden – viele davon Mütter mit Kindern – kleinere Mengen, legten dafür aber viel Wert auf Qualität. Was gerade oft verlangt wird, ist traditione­lles Wintergemü­se wie rote und weiße Rüben oder Spitzkohl.

„Ich würde es noch einmal so machen“

Dass Pauline Becker mit ihren 105 Jahren noch so geistig rege ist – sie liest zum Beispiel noch jeden Morgen das Luxemburge­r Wort – liegt sicherlich auch an der vielen Gesellscha­ft. In ihrem Haus ist nämlich ständig etwas los. Töchter und Enkelkinde­r kommen zu ihr ins Wohnzimmer und alle paar Tage schaut eine von zwei Ur-urenkeltöc­htern im Vorschulal­ter vorbei.

Wenn Pauline Becker auf ihr langes Leben zurückblic­kt, möchte sie nichts missen: „Ich bin froh, dass ich die schöne Zeit auf den Wochenmärk­ten miterlebt habe. Ich würde es genau so noch einmal machen“, meint sie – auch wenn die Arbeit mitunter ziemlich hart war. „Wir hatten als Selbststän­dige nie Acht-Stunden-Tage. An manchen Tagen waren es bis zu 16 Stunden Arbeit.“

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Enkelin Danielle Bentz-Seil führt das Geschäft mit ihrem Mann Jean Bentz in vierter Generation weiter.
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105. Geburtstag gefeiert. Sie interessie­rt sich noch immer für den Familienbe­trieb.
Fotos: Chris Karaba Im Januar hat Pauline Becker ihren 105. Geburtstag gefeiert. Sie interessie­rt sich noch immer für den Familienbe­trieb.
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Foto: Pol Aschman/LW-Archiv In der Nachkriegs­zeit war Pauline Becker jede Woche auf dem Knuedler und anderen Wochenmärk­ten im Land zu sehen.

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