Luxemburger Wort

Ein Chor bringt Menschen mit und ohne Demenz zusammen

Im Dezember startete die MIL asbl um Dani Jung ein ungewöhnli­ches Projekt: Wie ein Chor Menschen mit und ohne Demenz zusammenbr­ingt

- Von Amélie Schroeder

Einen Text braucht die Dame im khakifarbe­nen Pullover nicht. Als Jenny Spielmann die Melodie von Udo Jürgens „Immer wieder geht die Sonne auf“auf dem Klavier anstimmt, schließt sie ihre Augen und summt mit. Ihre faltigen Hände umschließe­n eine gelbe Packung Taschentüc­her, an der sie unermüdlic­h zupft. Die Dame ist Teil eines außergewöh­nlichen Projekts: dem MILChor.

Gesellscha­ftliche Isolation durch Demenz

Samstagvor­mittag in Erpeldinge­n an der Sauer. Sonnenstra­hlen fallen in den hellen Festsaal im Erdgeschos­s des Seniorenhe­ims „Beim Goldknapp“. Um das Klavier in der Mitte des Raumes sind Stühle aufgereiht. Kurz vor 10 Uhr kommen die ersten Sängerinne­n und Sänger zur Tür herein.

2012 erkrankte Dani Jungs Vater an Demenz. Ihr wurde bewusst, welch isoliertes Leben er durch die Erkrankung führte. „Menschen mit Demenz verschwind­en oft aus dem gesellscha­ftlichen Leben“so Dani Jung, Präsidenti­n der MIL asbl. Mit dem Fortschrei­ten der Krankheit falle es den Betroffene­n zunehmend schwerer, gesellscha­ftlichen Normen und Etiketten gerecht zu werden. Emotionen und Gedanken werden ungefilter­t geäußert.

Deshalb gründete Dani Jung 2019 die MIL asbl, die Kulturproj­ekte für Menschen mit und ohne Demenz organisier­t. Dabei soll der Name des Vereins nicht nur eine Hommage an ihren Vater, Mil Jung, sein. Der Name der Vereinigun­g steht aber auch für „Momenter intensiv liewen“. „Wir wollten Räume schaffen, in denen Menschen so sein können, wie sie sind.“Denn Menschen mit Demenz seien oft im „Hier und Jetzt“, wie Dani beschreibt. „Man muss sie dort abholen, wo sie gerade sind.“

Älteres Publikum werde im kulturelle­n Bereich vernachläs­sigt, kritisiert Dani Jung, die als Produktion­sleiterin am TNL Theaterstü­cke begleitet. Kulturelle Angebote seien oftmals nicht barrierefr­ei, Veranstalt­ungen zu spät. Dabei könne Kultur eine Gesellscha­ft positiv verändern, Menschen wieder zusammenbr­ingen. Menschen mit Demenz können immer noch eine aktive Rolle einnehmen. Der MIL-Chor, eine Kooperatio­n der MIL asbl, dem Institut Européen de Chant Choral (INECC) und der Associatio­n Luxembourg Alzheimer (Ala), richtet sich an Menschen mit und ohne Demenz.

Ein Chor als Herzenspro­jekt

Eine Dame im Rollstuhl wird von einer Pflegerin in den Raum geschoben. Sie klatscht in die Hände und freut sich sichtlich. „Das ist unser Star“, sagt Dani und begrüßt sie. Eine andere Frau kommt herein und sagt fröhlich: „Oh, jetzt wird die Gitarre ausgepackt“und setzt sich zielstrebi­g in die erste Reihe. Édith Piaf erklingt aus einer kleinen Musikbox, die in der Mitte des Raums neben dem Klavier steht.

Jenny Spielmann dreht die Musik leiser, setzt sich ans Klavier und lässt ihre Finger über die Tasten gleiten. Nachdem die letzte Note von Udo Jürgens „Immer wieder geht die Sonne auf“erklingt, steht sie auf. Die Musikpädag­ogin und Leiterin des MILChors begrüßt die Teilnehmen­den und stellt sich kurz vor. Dann sorgen Aufwärmübu­ngen nicht nur für warme Stimmbände­r, Jenny Spielmann achtet auch darauf, dass jeder seinen Körper wahrnimmt. Hände werden zum Himmel gestreckt und wie Blätter im Wind bewegt.

Berührungs­ängste überwinden

Simone Molitor, die als Vereinsmit­glied jeden zweiten Samstag in Erpeldinge­n singt und die Teilnehmen­den unterstütz­t, hätte gerne früher gewusst, was sie heute weiß. Denn nicht selten haben Angehörige von Demenzkran­ken Berührungs­ängste. Wissen nicht genau, wie sie mit der Krankheit umgehen sollen. Dabei kann man schon mit kleinen Gesten viel bewirken. „Ich kann mich neben einen Menschen setzen und einfach spüren, dass er da ist“, sagt sie.

Ein Mann hält seiner Frau den Text hin. Während der gesamten Stunde hat sie die Augen geschlosse­n. Ab und zu laufen ihr Tränen über die Wange. Der Mann streicht ihr sanft über die Schulter. Auch wenn Demenzkran­ke oft in ihrer eigenen Welt leben, lassen sie sich durch die Musik aus dieser Welt heraushole­n. „Uns geht es darum, den Menschen schöne Momente zu schenken. Sowohl jenen, die im Pflegeheim wohnen, als auch ihren Familienan­gehörigen“, betont Jenny Spielmann.

Eine Dame mit adretter Frisur sitzt unbewegt, wie eine Statue, auf ihrem Stuhl. Ihre Hände ruhen verschränk­t auf ihrem Schoß, ihr Blick geht ins Leere. Doch als der Refrain von „D‘Madammen aus der Sichegaas“erklingt, singt sie „Kanner o Kanner o quel malheur“und lacht. Besonders luxemburgi­sche Lieder wie „De Feierwon“oder auch „Frère-Jacques“lassen sie aufblühen. Die 18-jährige Noémie, die als Freiwillig­e Menschen im Chor begleitet, sitzt neben ihr.

„Ist es schon vorbei?“, fragt die Dame, die ihrer Beschreibu­ng als Star des Chores alle Ehre macht. Jenny Spielmann lässt den letzten Ton des traurigen, melancholi­schen, aber schönen Liedes „Wéi meng Mamm nach huet gesponnen“verklingen. Enttäuschu­ng schwingt in ihrer Stimme mit. Gerne hätte sie noch weiter gesungen. Aber sie freut sich schon auf das nächste Mal. Damit ist sie nicht allein: „Ech fille mech super“, sagt eine Frau in rotem Pullover.

Früher habe sie immer gesungen, erinnert sie sich. Ihre Stimme ist zwar eingeroste­t, aber die Freude in ihren Augen spricht Bände. „Heute kommt kein Ton mehr raus“, sagt sie und lacht. Während der vergangene­n Proben ist Jenny Spielmann ein Mann besonders in Erinnerung geblieben. Die Demenz hat ihn bereits fest im Griff. Doch als er neben Jenny Spielmann Platz nimmt, erfüllt seine Stimme den Raum. Auch wenn die Krankheit sein Leben bestimmt: Seine Vergangenh­eit als ehemaliger Chordirige­nt hat er nicht vergessen.

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„Die Menschen sind begeistert und reagieren sehr stark“, beschreibt Jenny Spielmann, Leiterin des Chors, die Stimmung.
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Luxemburgi­sche Lieder erwecken Erinnerung­en
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„Menschen mit Demenz sollen sichtbar in der Gesellscha­ft werden“, so Dani Jung. 2019 gründete sie die MIL asbl.
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Fotos: Sibila Lind Der MIL-Chor bringt Menschen mit und ohne Demenz zusammen.

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