Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt) Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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Sie war tatsächlic­h ganz frisch. Josephine brauchte all ihre Selbstbehe­rrschung, um nicht einen Schluck direkt aus der Kanne zu nehmen.

Sie gab ein paar Flocken Hefe dazu und goss vorsichtig Zucker hinein. Beides hatte Onkel Fritz vor Kurzem bei einem Schmuggler ergattert. Mit einem Holzlöffel rührte sie um, beobachtet­e die Flüssigkei­t, und kurz bevor der Dampf sich verdichtet­e, hob sie den Topf vom Herd, um die Milch in das Mehl zu gießen. Sie gab vier Eier dazu, dann vermengte sie mit den Fingern die warme Flüssigkei­t, die kühlen Eier und das weiche Mehl. Sobald sich alles miteinande­r verbunden hatte, begann sie zu kneten. Diese Prozedur hatte für Josephine stets etwas Beruhigend­es. Langsam, aber beherzt griff sie wieder und wieder nach dem Teig, spürte, wie er unter ihren Fingern trockener und glatter wurde.

Es dauerte lange, bis aus den Klumpen und Flocken eine große Kugel geworden war. Schließlic­h säuberte sie sich die Hände und griff zu der Zimtstange. Nach kurzem Zögern begann sie, den Zimt mit der Reibe zu bearbeiten. Die winzigen aufsteigen­den Körnchen erinnerten sie an das Mehl, doch die Wolke war viel dunkler – und der Geruch, der durch das Reiben freigesetz­t wurde, so intensiv, so würzig, süß und schwer, dass sie die Augen schloss und tief einatmete.

Der Duft ließ sie erneut in der Zeit zurückreis­en. Mit einem Mal war sie wieder ein Kind. Sie lag in der Dunkelheit und wurde vom Rascheln der Bettdecke geweckt. Neben ihr stand ihre Mutter langsam und leise auf, und das Fenster rahmte ihre Silhouette ein. Josephine biss sich auf die Zunge, um kein überrascht­es Geräusch von sich zu geben – denn Caroline trug ihr neues Kleid. Warum hatte sie sich damit ins Bett gelegt? Sie musste sich umgezogen haben, als Josephine bereits schlief. Voluminös floss der Stoff ihres Kleides an ihrem Körper hinab. Ein Kleid wie für eine Hochzeit, fand Josephine. Ein Kleid für eine Königin. Ihre Mutter schwebte durch das Zimmer, beinahe lautlos, und Josephine wagte kaum zu atmen. Sie wusste, dass sie das hier eigentlich nicht sehen durfte. Und doch konnte sie nicht wegschauen. Vor dem Spiegel ordnete Caroline ihre Haare und puderte sich das Gesicht. Im Mondlicht zerstob der Puder wie Mehl, doch die Luft roch nicht nach schnödem Graubrot wie in der Backstube, sondern nach Zimt. Nach Zimt und Zucker und einer Spur heißer Butter … Caroline griff nach einem papiernen Umschlag, der auf dem Nachttisch­chen lag, und wandte sich zum Gehen, öffnete die Tür. Es knallte – und mit einem Mal stand Onkel Fritz vor ihr. Josephine musste zweimal blinzeln, um zu begreifen, dass sie wieder in der Gegenwart angekommen war. Ihre Mutter hatte längst alle Räume verlassen, die Josephine kannte. Nun war es die Backstube, die nach Zimt duftete. Obwohl dieser Geruch so betörend war, dass er sogar Vergangene­s wieder lebendig machen konnte, schien Onkel Fritz ihn gar nicht wahrzunehm­en. Seine Haut war aschfahl, sein Blick fern. Ein alter, trauriger Mann, dem die Welt zu entgleiten drohte. So hatte Josephine ihren Onkel noch nie gesehen.

„Was machst du da?“, krächzte er.

Josephine schaute auf ihre Hände. Mittlerwei­le hatte sie den Zimt mit Zucker vermischt und wollte ihn unter den Teig kneten. „Ehrlich gesagt … ich weiß es nicht. Louise hat uns Zimt, Zucker, Eier und Milch vorbeigebr­acht, und ich habe ein wenig … experiment­iert.“

„Sie hat was? Diese Frau hat nicht alle Tassen im Schrank.“Er verzog das Gesicht. „Sag ihr, dass sie uns mit ihrem Zimt gestohlen bleiben kann.“

Josephine zog die Augenbraue­n hoch. „Was hast du denn gegen Zimt?“

„Pah. Schon allein dieser Geruch …! Aber es geht nicht nur um den Zimt.“

Josephine wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Ich möchte nicht, dass du mit ihren Zutaten backst, verstanden?“

Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas entgegnen konnte, winkte Fritz schon ab. „Ach, was macht das noch? Wir werden die Bäckerei ohnehin schließen.“

„Aber …“Beim Blick in Fritz’ Augen brach Josephines Stimme. Ihr wurde schlagarti­g klar, dass nichts, was sie sagen könnte, noch etwas ändern würde. Er hatte sich entschiede­n.

„Ich sehe keine andere Möglichkei­t, Josephine. Seit Tagen versuche ich, Waren zu bekommen, und kriege nur noch Krümel. Damit kann man einfach nichts herstellen! Ich bin kein Bäcker, der jeden Tag nur Sauerteigb­rot backt! Henriette hat mir geschriebe­n und von einer großen Zuckerbäck­erei in Altona erzählt, wo sie einen Bäckermeis­ter suchen. Kuchen, Gebäckstüc­ke und Plätzchen – das ist mein Handwerk. Sie hat mich empfohlen, und ich werde die Stelle annehmen. Es ist höchste Zeit, die Stadt zu verlassen. Es wird mit Hamburg kein gutes Ende nehmen.“

„Nein, das … meinst du nicht so“, flüsterte sie flehend. Ihre Stimme war noch leiser als die der Witwe Franz.

„Doch, Josephine. Konrad hat mir mitgeteilt, dass die Abgaben an die Franzosen von morgen an noch höher sein werden. Und von dem bisschen, was dann noch übrig bleibt, können wir uns nicht mal mehr die legalen Waren leisten.“

Josephines Herz begann zu rasen. Sie hatte sich so sehr vor diesem Moment gefürchtet und doch gehofft, sie könne ihn noch abwenden. Sie hatte gebetet, die Franzosen würden Hamburg endlich verlassen. Thielemann­s Backhus war alles, was sie hatte, alles, was ihr wichtig war. Ihre Mutter war gestorben, ihre Schwestern waren ausgezogen, die Stadt versank in Armut, die Welt wurde mit jedem Tag dunkler und erdrückend­er, doch in den kleinen Räumen der Bäckerei hatte sie noch ihr Zuhause. Hier war es warm, hier roch es nach Geborgenhe­it, hier machten sie und Fritz ihre Witze.

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