Experten warnen vor britischer Drogenkrise
Synthetische Opioide breiten sich im Inselkönigreich aus. Sie sind um ein Vielfaches stärker als Heroin und könnten zu einem starken Anstieg der Todesfälle führen
Die erste Warnung kam im vergangenen Sommer. Die Gesundheitsbehörden in der englischen Großstadt Birmingham meldeten, dass innerhalb von zwei Monaten rund 30 Drogenkonsumenten an den Folgen einer Überdosis gestorben waren – das sind etwa doppelt so viele wie gewöhnlich.
Gesundheitsexperten hatten den Verdacht, dass eine neue Gruppe synthetischer Rauschmittel hinter dem schnellen Anstieg der Drogentoten steckte: Nitazene. Diese sind bis zu hundertmal stärker als Heroin, entsprechend ist das Risiko einer Überdosis viel höher. Die Situation könnte bald „noch viel schlimmer werden“, sagte Megan Jones von der Drogenstiftung Cranstoun damals gegenüber der BBC.
Ihre Befürchtung scheint sich seither bestätigt zu haben. „Extrem starke synthetische Opioide“wie Nitazene fänden im britischen
Drogenmarkt zunehmend Verbreitung, schrieb das British Medical Journal einige Monate später. Im Januar meldete die Strafverfolgungsbehörde National Crime Agency (NCA), dass in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres 65 Menschen an den Folgen einer Nitazen-Überdosis starben. In ihren Stichproben konfiszierter Drogen fanden sie Nitazen fünfmal häufiger als noch vor zwei Jahren. Nitazen wurde ursprünglich in den 1950er-Jahren als Schmerzmittel entwickelt, aber es wurde nie zugelassen als Arznei; in Großbritannien ist es seit 2016 verboten. Dass es jetzt häufiger in Laboren hergestellt und in den britischen Markt geschmuggelt wird, könnte mit den politischen Umwälzungen 5.500 Kilometer weiter östlich zusammenhängen, in Afghanistan.
Im Sommer 2021 kamen die Taliban dort zurück an die Macht. Bald darauf machten sie sich daran, den Opium-Anbau zu unterbinden. Satellitenaufnahmen zeigen, dass die Fläche, auf der Opium-Mohn gezüchtet wird, seither um 85 Prozent kleiner geworden ist. Die Folge: Im OpiumNachschub hat sich eine riesige Lücke aufgetan – der Großteil des Heroins in Europa stammt aus Afghanistan.
Diese Lücke, so mutmaßen Experten, wird jetzt durch künstlich hergestellte Opioide gefüllt. Möglicherweise werden Nitazene in Laboren in China produziert und dann per Post nach Europa ge
schickt, so die NCA. „Starke synthetische Opioide haben klare Vorteile für die Produzenten“, schreibt das Fachmagazin „The Lancet“. „Sie können schnell und billig hergestellt werden, ohne dass man sich auf illegale Nutzpflanzen verlassen muss.“Für die User hingegen sind solche Drogen brandgefährlich. In den meisten Fällen werden Nitazene herkömmlichem Heroin beigemischt, ohne dass sich die Verbraucher dessen bewusst sind, warnt die NCA. Weil sie um ein Vielfaches stärker sind als andere Opioide, kann es viel schneller zu einer Überdosis und einem Atemstillstand kommen. Was für Verheerungen synthetische Opioide verursachen können, hat sich in den vergangenen Jahren in den USA und in Kanada gezeigt: Dort hat die Droge Fentanyl eine schwere Krise mit Zehntausenden Toten ausgelöst – und Nitazene sind noch stärker als Fentanyl.
Synthetische Opioide können schnell hergestellt werden, ohne dass man sich auf illegale Pflanzen verlassen muss. „The Lancet“
Hausgemachte Krise
Um die gesundheitlichen Schäden der drohenden Nitazen-Krise in Großbritannien zu begrenzen, fordern Drogenstiftungen mehr Investitionen in Prävention und Behandlung. Im Jahrzehnt der britischen Sparpolitik ab 2010 wurde das staatliche Geld für Behandlungs- und Beratungszentren für Drogenabhängige stark reduziert. Die Folgen waren schnell spürbar: Innerhalb von fünf Jahren nahmen die Todesfälle infolge von Drogenmissbrauch um rund 60 Prozent zu. Die Krise hat die Regierung seither zum Handeln bewegt, 2021 versprach sie, 700 Millionen Pfund in Hilfsprojekte und Behandlungszentren für Drogenabhängige zu stecken.
Aber darüber hinaus gibt es auch Forderungen, die britische Drogenpolitik zu liberalisieren, etwa durch die Errichtung von Drug Consumption Rooms. Die schottische Regierung hat im vergangenen Herbst grünes Licht gegeben für ein erstes solches Projekt, es soll noch in diesem Jahr die Türen öffnen.