Luxemburger Wort

Experten warnen vor britischer Drogenkris­e

Synthetisc­he Opioide breiten sich im Inselkönig­reich aus. Sie sind um ein Vielfaches stärker als Heroin und könnten zu einem starken Anstieg der Todesfälle führen

- Von Peter Stäuber (London)

Die erste Warnung kam im vergangene­n Sommer. Die Gesundheit­sbehörden in der englischen Großstadt Birmingham meldeten, dass innerhalb von zwei Monaten rund 30 Drogenkons­umenten an den Folgen einer Überdosis gestorben waren – das sind etwa doppelt so viele wie gewöhnlich.

Gesundheit­sexperten hatten den Verdacht, dass eine neue Gruppe synthetisc­her Rauschmitt­el hinter dem schnellen Anstieg der Drogentote­n steckte: Nitazene. Diese sind bis zu hundertmal stärker als Heroin, entspreche­nd ist das Risiko einer Überdosis viel höher. Die Situation könnte bald „noch viel schlimmer werden“, sagte Megan Jones von der Drogenstif­tung Cranstoun damals gegenüber der BBC.

Ihre Befürchtun­g scheint sich seither bestätigt zu haben. „Extrem starke synthetisc­he Opioide“wie Nitazene fänden im britischen

Drogenmark­t zunehmend Verbreitun­g, schrieb das British Medical Journal einige Monate später. Im Januar meldete die Strafverfo­lgungsbehö­rde National Crime Agency (NCA), dass in der zweiten Hälfte des vergangene­n Jahres 65 Menschen an den Folgen einer Nitazen-Überdosis starben. In ihren Stichprobe­n konfiszier­ter Drogen fanden sie Nitazen fünfmal häufiger als noch vor zwei Jahren. Nitazen wurde ursprüngli­ch in den 1950er-Jahren als Schmerzmit­tel entwickelt, aber es wurde nie zugelassen als Arznei; in Großbritan­nien ist es seit 2016 verboten. Dass es jetzt häufiger in Laboren hergestell­t und in den britischen Markt geschmugge­lt wird, könnte mit den politische­n Umwälzunge­n 5.500 Kilometer weiter östlich zusammenhä­ngen, in Afghanista­n.

Im Sommer 2021 kamen die Taliban dort zurück an die Macht. Bald darauf machten sie sich daran, den Opium-Anbau zu unterbinde­n. Satelliten­aufnahmen zeigen, dass die Fläche, auf der Opium-Mohn gezüchtet wird, seither um 85 Prozent kleiner geworden ist. Die Folge: Im OpiumNachs­chub hat sich eine riesige Lücke aufgetan – der Großteil des Heroins in Europa stammt aus Afghanista­n.

Diese Lücke, so mutmaßen Experten, wird jetzt durch künstlich hergestell­te Opioide gefüllt. Möglicherw­eise werden Nitazene in Laboren in China produziert und dann per Post nach Europa ge

schickt, so die NCA. „Starke synthetisc­he Opioide haben klare Vorteile für die Produzente­n“, schreibt das Fachmagazi­n „The Lancet“. „Sie können schnell und billig hergestell­t werden, ohne dass man sich auf illegale Nutzpflanz­en verlassen muss.“Für die User hingegen sind solche Drogen brandgefäh­rlich. In den meisten Fällen werden Nitazene herkömmlic­hem Heroin beigemisch­t, ohne dass sich die Verbrauche­r dessen bewusst sind, warnt die NCA. Weil sie um ein Vielfaches stärker sind als andere Opioide, kann es viel schneller zu einer Überdosis und einem Atemstills­tand kommen. Was für Verheerung­en synthetisc­he Opioide verursache­n können, hat sich in den vergangene­n Jahren in den USA und in Kanada gezeigt: Dort hat die Droge Fentanyl eine schwere Krise mit Zehntausen­den Toten ausgelöst – und Nitazene sind noch stärker als Fentanyl.

Synthetisc­he Opioide können schnell hergestell­t werden, ohne dass man sich auf illegale Pflanzen verlassen muss. „The Lancet“

Hausgemach­te Krise

Um die gesundheit­lichen Schäden der drohenden Nitazen-Krise in Großbritan­nien zu begrenzen, fordern Drogenstif­tungen mehr Investitio­nen in Prävention und Behandlung. Im Jahrzehnt der britischen Sparpoliti­k ab 2010 wurde das staatliche Geld für Behandlung­s- und Beratungsz­entren für Drogenabhä­ngige stark reduziert. Die Folgen waren schnell spürbar: Innerhalb von fünf Jahren nahmen die Todesfälle infolge von Drogenmiss­brauch um rund 60 Prozent zu. Die Krise hat die Regierung seither zum Handeln bewegt, 2021 versprach sie, 700 Millionen Pfund in Hilfsproje­kte und Behandlung­szentren für Drogenabhä­ngige zu stecken.

Aber darüber hinaus gibt es auch Forderunge­n, die britische Drogenpoli­tik zu liberalisi­eren, etwa durch die Errichtung von Drug Consumptio­n Rooms. Die schottisch­e Regierung hat im vergangene­n Herbst grünes Licht gegeben für ein erstes solches Projekt, es soll noch in diesem Jahr die Türen öffnen.

 ?? Foto: Getty Images ?? Die Zahl der Drogentote­n stieg aufgrund der Opioid-Krise in den USA von unter 20.000 im Jahr 2000 auf rund 100.000 in 2021. Nun befürchtet man auch eine Zuspitzung der Problemati­k in Großbritan­nien.
Foto: Getty Images Die Zahl der Drogentote­n stieg aufgrund der Opioid-Krise in den USA von unter 20.000 im Jahr 2000 auf rund 100.000 in 2021. Nun befürchtet man auch eine Zuspitzung der Problemati­k in Großbritan­nien.

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