Justin Trudeau kommt bei den Wählern nicht mehr an
Der kanadische Premier galt als Wähler-Darling, doch seine Partei steckt im Umfragetief fest. Das hat viele Ursachen
Kanadas nächstes Parlament wird erst in eineinhalb Jahren, im Oktober 2025, gewählt. Für die regierenden Liberalen sieht es aber düster aus. Premierminister Justin Trudeau sitzt in einem tiefen Umfrageloch und Meinungsumfragen lassen nur einen Schluss zu: Er ist ein unpopulärer Premierminister. Trudeau scheint entschlossen, seine Partei trotz verheerender Umfragen in den Wahlkampf zu führen. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Partei ihm folgen oder auf eine vorzeitige Veränderung an der Parteispitze dringen wird.
Nach den jetzigen Umfragen steuern die Konservativen unter Pierre Poilievre einem klaren Wahlsieg entgegen, möglicherweise mit einer deutlichen absoluten Mehrheit der Sitze im Parlament. Die Konservativen liegen bei 40 Prozent, die Liberalen zwischen 20 und 25 Prozent. Er kandidiere, „weil jetzt nicht die Zeit ist, den Kampf für Fortschritt einzustellen“, ruft Trudeau seinen Parteimitgliedern zu und wirft Poilievre vor, eine „populistische Politik weit rechts importieren“zu wollen. Für diesen wiederum ist Trudeau Symbol und Ursache für alle Missstände in Kanada – ob Wohnraummangel oder gestiegene Lebenshaltungskosten – und er verspricht, Kanada wieder zu dem Land zu machen, „das wir immer kannten und immer noch lieben.“Eine tiefgehende Abneigung prägt das Verhältnis zwischen den Spitzenleuten. Kanada steht vor einem erbitterten personalisierten Wahlkampf.
Die Umfragen würden eine „Verachtung für Trudeau und die liberale Regierung deutlich machen“, heißt es in einer Analyse des Instituts Abacus. Nach mehr als acht Jahren Trudeau ist für viele der Zeitpunkt eines Wechsels gekommen. Selbst ein beträchtlicher Teil der jüngeren Wählerinnnen und Wählern, die Trudeau 2015 zu seinem Sieg verholfen hatten, wendet sich Poilievre zu..
Trudeaus Sozialpolitik zahlt nicht ein
Meinungsumfragen deuten auf eine Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik Trudeaus hin, obwohl das Bild mit einer in den vergangenen Monaten gesunkenen Inflationsrate von drei Prozent und einer Arbeitslosenquote von 5,8 Prozent nicht so schlecht aussieht. Aber das Wirtschaftswachstum lag im zweiten Halbjahr 2023 nahe Null.
Kanada ist kein armes Land. Aber für junge Familien, die vor Jahren noch ein Eigenheim als erreichbares Ziel vor Augen hatten, ist dies vor allem in Großstädten heute oftmals illusorisch. Die Zinsen sind hoch und die Lebensmittelpreise seit der Pandemie deutlich gestiegen. Die Tafeln, die Essen oder Lebensmittel kostenlos ausgeben, melden Rekordzahlen an Bedürftigen. Es ist ein ständiges Thema in den Medien. In diesem Klima kommt Poilievre, der die Rückkehr zu besseren Zeiten verspricht, an. Mit „Axe the Tax“, dem Versprechen, die von Trudeau eingeführte Kohlendioxidsteuer abzuschaffen, lässt er seine Anhänger jubeln. Er macht diese Steuer zur Ursache fast aller Preissteigerungen und Probleme. Ein Konzept, wie der bedrohliche Klimawandel mit den katastrophalen Waldbränden in Kanada verhindert werden kann, hat Poilievre nicht vorgelegt. Dass unter Trudeau ein Programm zur Schaffung von Kindergartenplätzen aufgelegt wurde und die staatlichen Leistungen in der Gesundheitsfürsorge – Kostenübernahme für Zahnarztkosten und Medikamente – ausgeweitet werden, schlägt sich nicht in den Umfragen nieder. Trudeau steuerte Kanada durch die turbulenten Jahre der Donald-Trump-Zeit in den USA und durch die Pandemie. Nun stellt sich heraus, dass bei Covid-Hilfen und der Entwicklung der ArriveCan-App, deren Nutzung in Pandemie-Zeit Voraussetzung für Reisen war, vermutlich viele Millionen Dollar verschwendet wurden – was jetzt Trudeau angelastet wird.
Trudeau hatte in Interviews zum Jahresende 2023 deutlich gemacht, dass er nicht daran denkt, aufzugeben. Sein Image als „liberale Lichtgestalt“, als die er nach dem Wahlsieg 2015 vor allem im Ausland und im Kontrast zu den Entwicklungen in den USA unter Trump gefeiert worden war, war schon in seiner ersten Amtszeit verblasst.
Trudeau noch nicht abschreiben
Im Parlament droht Trudeau und seinen Liberalen aber keine akute Gefahr des Sturzes. Im März 2022 hatten die Liberalen und die sozialdemokratische New Democratic Party (NDP) eine Kooperation vereinbart, die den Bestand der Regierung bis Sommer 2025 sicherstellen soll. Nur ein dramatisches Zerwürfnis zwischen Liberalen und NDP oder ein bewusst provozierter Bruch des Bündnisses könnte zu vorzeitigen Wahlen führen.
Keine der einflussreichen Kräfte in der liberalen Partei stellt bisher offen die Führungsfrage. Die stellvertretende Premierministerin und Finanzministerin Chrystia Freeland wird seit Jahren als potenzielle Nachfolgerin Trudeaus gehandelt, aber sie betonte: „Der Premierminister war sehr klar, dass er beabsichtigt, unsere Partei in die nächste Wahl zu führen. Er hat meine volle Unterstützung.“Auch Mark Carney, der frühere Gouverneur der Bank of Canada, ist im Gespräch.
Bei einer Nachwahl in einem Wahlkreis im Raum Toronto konnten die Konservativen Anfang März nicht nur den Sitz halten, sondern ihren Stimmenanteil ausweiten und den Liberalen eine vernichtende Niederlage zufügen. „Das ist Alarmstufe Rot“, zitiert der „Toronto Star“einen Liberalen. Angesichts dieses Ergebnisses und der jetzigen Umfragen können die Liberalen einen dramatischen Absturz nicht ausschließen. Er könnte für mehr als der Hälfte der jetzigen 156 liberalen Abgeordneten den Sitzverlust bringen. „Die schiere Zahl liberaler Abgeordneter, die in dieser Umfrage dem Untergang geweiht sind, muss in der Fraktion Gespräche darüber auslösen, wie man Druck auf ihn ausüben kann zu gehen. Ein neuer Parteivorsitzender ist ihre einzige Überlebenschance“, schreibt Don Martin, Journalist für den Rundfunksender CTV, auf X, früher Twitter. Langjährige politische Beobachter in Ottawa warnen jedoch davor, Trudeau bereits jetzt abzuschreiben. Ein schwerer Fehltritt von Poilievre kann viel verändern, Zinssenkungen und ein deutlicher Rückgang der Inflation könnten das ökonomische Bild für die Liberalen aufhellen. Und wie sich der Ausgang der US-Präsidentenwahl mit einem möglichen Präsidenten Trump auf das Wahlverhalten in Kanada auswirkt, ist ebenfalls nicht abzuschätzen.
Nach mehr als acht Jahren Trudeau ist für viele der Zeitpunkt eines Wechsels gekommen.