Der Duft von Zimt
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Und zwischen Steinofen und Arbeitsplatte hatte sich der Duft ihrer Mutter verfangen. Hier pflegte und fütterte Josephine die Erinnerungen an ihre Kindheit wie einen Sauerteig. Hier war sie eine Bäckerin. Was blieb, wenn es das Backhus nicht mehr gab? Wenn ihr Onkel in Altona arbeitete und sie nicht mehr als helfende Hand gebraucht wurde?
„Aber was wird aus mir?“, flüsterte sie. „Du kommst natürlich mit. Wir suchen dir in Altona einen Ehemann, du heiratest und freust dich des Lebens. Es wird ohne hin höchste Zeit.“
„Und … Hans?“
Fritz wich ihrem Blick aus. Sein Sohn hatte sich vor Jahren den Hanseaten angeschlossen, um gegen die Franzosen in den Krieg zu ziehen. Zwar hatte er immer betont, er wolle kein Bäcker werden, sondern Soldat, doch Fritz hatte nie so ganz die Hoffnung aufgegeben, dass er eines Tages, wenn er vom Krieg genug hätte, nach Hamburg zurückkehren und die Bäckerei übernehmen würde. Josephine war sicher gewesen, dass er allein seinetwegen bis jetzt durchgehalten hatte. Nur damit Hans eines Tages ein Auskommen hätte und selbst den Rosenstrauch pflegen könnte.
Fritz schluckte und ließ den Kopf hängen. „Ich habe so lange keine Feldpost mehr bekommen“, sagte er leise und schüttelte den Kopf. Dann brummte er noch etwas Unverständliches und schlurfte mit gebeugtem Rücken und schwerem Schritt aus der Backstube.
6. Kapitel
Es war früher Morgen, als Christian Schulte ans Fenster des Posthalters klopfte. Kurz sah er dessen teilnahmsloses Gesicht hinter dem Glas, dann öffnete der Maître de Poste und streckte ihm einen Stapel Briefe entgegen.
„Bonjour“, sagte der Posthalter. Nach und nach besetzten die Franzosen immer mehr wichtige Verwaltungspositionen der Stadt. Anfangs hatte Christian sich noch darüber gewundert, warum sie ausgerechnet die Post für wichtig hielten, doch über seine Fragen schüttelte sein Vater abfällig den Kopf und schimpfte: „Denk doch bitte eine Sekunde darüber nach, bevor du so geistlose Fragen stellst!“
Mittlerweile hatte er es herausgefunden.
„Guten Morgen“, sagte Christian. Höflich, wie er nun einmal war, übersah er die Knicke im Umschlagpapier und die vielen gelösten und gebrochenen Siegel. Er steckte die Briefe in seine Umhängetasche, wobei er darauf achtete, die rote Eibischblüte nicht zu zerbröseln, die er in einem ansonsten leeren Umschlag aufbewahrte. Er hatte sie schon im Sommer gepflückt, getrocknet und dabei an Josephine Thielemann gedacht. Er dachte schon seit Längerem oft an Josephine Thielemann. Und genauso lange pflückte er Blumen, um sie zu trocknen. Denn das Gute am Trocknen war, dass er nicht gezwungen war, die Blumen sofort zu verschenken. Stattdessen konnte er sich eine Zeit lang einfach nur vorstellen, wie er sie überreichte. Er konnte in Ruhe planen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen wäre und wie er Josephine die Blüten zukommen lassen könnte. Gestern hatte er es nun endlich gewagt und ihr die erste Blüte zwischen die Briefumschläge gesteckt. Ob sie seine Botschaft wohl verstanden hatte? Natürlich war es kein Zufall gewesen, dass er zuerst den Jasmin gewählt hatte, den er in einem Apothekergarten entdeckt hatte. Vorsichtig, aber aufrichtig gestand diese Blüte: Du bist bezaubernd.
In seinem Zimmer warteten noch zahlreiche weitere Blumen darauf, Josephine ihre Botschaften zuzuflüstern. Sie steckten zwischen den Seiten der schweren Enzyklopädie, die ihm sein Großvater vermacht hatte. Und jede einzelne von ihnen hatte ihre eigene Bedeutung. Christian kannte die Sprache der Blumen genau, seine Großmutter hatte sie ihm schon als Kind beigebracht. Sie erzählte ihm gern von einer längst vergangenen Zeit, in der seine Familie noch wohlhabend und angesehen gewesen war. Damals hatte Großmutter teure Kleider und aufwendige Perücken getragen. Sie und sein Großvater waren bei den wichtigsten Empfängen und Bällen der Hamburger Gesellschaft ein und aus gegangen. Und so vornehm wie sie war, kommunizierte diese Gesellschaft ausschließlich durch die Blume miteinander, so hatte Großmama es Christian erklärt. Eine Brennnessel beispielsweise bedeutete: Ich durchschaue dich. Die Hortensie sagte: Du bildest dir zu viel auf dich ein. Die Pfefferminze: Vergib mir bitte. Nur weil Großvater und Großmutter die Sprache der Blumen beherrschten, fanden sie schließlich zueinander, ohne auch nur ein einziges ungebührliches Wort sagen zu müssen.
„Meine Liebe gehört dir auf ewig“, rief die Eibe an Großvaters Rock überschwänglich.
„Ich muss darüber nachdenken“, erwiderte stolz der Krokus an Großmutters Kleid.
„Du wärst die Krönung meines Lebensglückes“, drängte verliebt Großvaters Gerbera.
„Mein Herz ist frei …“, deutete Großmutters Chrysantheme schüchtern an.
„Deine Schönheit verschlägt mir den Atem!“, schwärmte Großvaters Enzian.
„Nun denn“, antwortete schließlich Großmutters Anemone.
„Ich bin ganz dein.“
Genauso wollte es auch Christian machen. Er hatte schon vor langer Zeit ein Auge auf Josephine geworfen. Damals war sie noch ein schüchternes Kind gewesen, das schwer an der Trauer um seine Mutter zu tragen hatte. Mit Freude hatte er beobachtet, dass die Arbeit in der Bäckerei sie aufblühen ließ.
Mittlerweile war sie eine schöne junge Frau geworden, die den Menschen offen ins Gesicht sah. Währenddessen hatte er jahrelang seine Träume mit den Blüten zwischen alte Buchseiten geschoben und trocknen lassen. Es wurde höchste Zeit, dass er Josephine seine Gefühle gestand. Am besten spräche er auch bald mit ihrem Vormund.
(Fortsetzung folgt)