Mehr zu sehen als nur Farben und Linien
Unter dem bewusst provokanten Titel „Nicht viel zu sehen – Wege der Abstraktion 1920 bis heute“breitet das Von der Heydt Museum in Wuppertaler seine Schätze aus
Die neue Präsentation des Von der Heydt Museums rückt die Abstraktion in den Fokus. Sie versteht sich in gewisser Weise als FolgeAusstellung nach „ZERO, Pop und Minimal“, die im vergangenen Frühjahr dort gezeigt wurde. Unter dem bewusst provokanten Titel „Nicht viel zu sehen -Wege der Abstraktion 1920 bis heute“breitet das Wuppertaler Museum seine Schätze aus, von der klassischen Moderne bis aktuellen Werken ungegenständlicher Malerei. Und natürlich gibt es dabei ganz viel zu sehen! Zahlenmäßig werden 90 Werke, davon sieben Skulpturen, von 70 Künstlern in zehn Ausstellungsräumen gezeigt.
Mächtig viel zu sehen und extrem wenig zu sehen, diesen Kontrast bietet schon der erste Raum mit seinen großformatigen Gemälden: In der rechten Hälfte toben sich die Farben voller Dynamik und Energie auf einer riesigen Fläche aus. Das Auge kann eine kraftvolle künstlerische Schöpfung erkennen. Ein eindrucksvoller Einstieg mit Katharina Grosse, die sich durch ihre Spray-Arbeiten weltweit einen Namen gemacht hat. Das Monumentalwerk zur Linken kommt dagegen mit wenigen Linien aus, wird als unvollendet wahrgenommen, die „Bildwerdung“scheint nicht abgeschlossen. Diese reduzierte, fast minimalistische Komposition stammt von dem Künstler Daniel Lergon. Der Verschiedenheit wird hier eine große Bühne geboten.
Ideen-Räume statt Chronologie
Solche Abwechslungen und Überraschungen lauern überall auf dem Weg durch hundert Jahre abstrakter Kunst. Ein Merkmal dieser Ausstellung ist es, dass bewusst nicht auf eine Chronologie der Werke geachtet wurde. In einigen Räumen werden Bilder, die man als „zeitgenössische Kunst“einstuft, mit Werken, die Jahrzehnte vorher entstanden sind, in einen Dialog gebracht. Dadurch „könnte man fast von IdeenRäumen sprechen“, sagt die Kuratorin Beate Eickhoff. Dabei trifft etwa die historische
Schlüsselfigur der Abstraktion Max Ernst auf den jungen Berliner Künstler Pius Fox. Eickhoff nennt das „einen lebendigen, offenen Prozess unter vielen Beteiligten.“(Raum 3)
Die Abstraktion, respektive die nicht-figurative Malerei, war ein Phänomen, das in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern gleichzeitig aufkam. Wir finden diese Entwicklung bei den französischen, russischen oder niederländischen Avantgardisten, bei Arp, Grosse, Hölzel, Kandinsky, Klee und vielen anderen in Deutschland. Sie wollten sich von der schaurigen Realität, die einen erbarmungslosen Weltkrieg zur Folge hatte, lösen. Man könne „nur mit Kunst die Welt verändern“, hat Joseph Beuys später einmal gesagt. „Abstrahieren“bedeutet „ablösen“und damit dem Materialismus etwas Neues, Zukunftsweisendes entgegensetzen. „Nach dem Krieg jubelte die Kunstkritik, dass es nun mit der Abstraktion eine Weltsprache gäbe. ‚Abstrakt‘ war fast ein halbes Jahrhundert der Inbegriff von ‚modern‘, … das war ein Siegeszug sondergleichen,“betont Eickhoff.
Vielfache Assoziationen
Dass die Abstraktion schon bald als „entartet“diffamiert wurde, haben die Künstler und Künstlerinnen während der Nazi-Zeit leidvoll erfahren. Das widerfuhr auch dem Maler, Grafiker und Bühnenbildner Willi Baumeister, dessen Werk mit Wuppertal besonders verbunden ist und dem ein eigener Ausstellungsraum gewidmet wird. Er war Mitglied des „Wuppertaler Arbeitskreises“, einer vom Lackfabrikanten Kurt Herberts unterstützten Künstlergruppe, die von 1936 bis 1943 im Rahmen eines „MalTechnikums“beschäftigt wurde und sich unter dieser Protektion halbwegs frei entfalten konnte. Baumeister sieht Künstler in erster Linie als Schöpfer von etwas gänzlich Neuem. Jedem Kunstwerk liege „das Geheimnis der Schöpfungstat“zugrunde. Unter dieser Voraussetzung entstehen seine Bilder und Skulpturen, die beim Betrachter vielfache Assoziationen erzeugen, aber manchmal unsere Vorstellungskraft überfordern (Raum 5).
Nahezu das Gegenteil erlebt das Publikum im vorletzten Ausstellungsraum (Raum 9), in dem das Motiv klar erkennbar ist, z. B. als Blatt, als Flasche, als Dose oder als Hut. Die gemalte Form erlaubt eine Identifizierung, wird aber, weil das Objekt verfremdet wird, als „abstrakt“wahrgenommen. Bei genauer Beobachtung verschwindet die Assoziation mit dem realen Gegenstand. Und gelegentlich fragt sich der Betrachter, ob beim Aufhängen des Bildes nicht oben mit unten verwechselt wurde. Die Idee, dass ein Gemälde allein aus Farben und Linien auf einer Leinwand besteht, und darüber hinaus keine Bedeutung hat, lässt eben viele Sichtweisen zu. Das gilt besonders für die aus großen Farbflächen gebauten „Architekturbilder“, die den letzten Großraum füllen. Diese Werke zu verstehen, die feinen Lichtreflexionen zu erkennen, bedarf es einer beharrlich intensiven, „aktiven“Betrachtung. Erst dann kann man wieder unendlich viel sehen.
Erinnerung an „documenta“
Benannt ist die Ausstellung nach einem Bild des Pariser Malers Jean Fautriers (+ 1964), das den Titel „Not much to look at“trägt. Dieses bedeutende Werk aus dem Bereich informeller Kunst ist nur eine von zahlreichen Kostbarkeiten aus dem Depot des Von der Heydt Museums. Einige dieser Kunstschätze wurden bereits 1959 auf der bedeutsamen Kasseler documenta – es war erst die Zweite – ausgestellt. Sie bleibt unvergessen als ein Höhepunkt in der erneuten Anerkennung abstrakter Malerei. 65 Jahre danach ist es ein Verdienst dieser aktuellen Schau in Wuppertal, daran zu erinnern.
Bis 1. September 2024, Eintritt für Erwachsene 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, Familie 24 Euro. Führungen: 5 Euro zzgl. Eintritt. www.von-der-heydt-museum.de
Abstrahieren bedeutet ablösen und damit dem Materialismus etwas Neues, Zukunftsweisendes entgegensetzen.