Luxemburger Wort

Mehr zu sehen als nur Farben und Linien

Unter dem bewusst provokante­n Titel „Nicht viel zu sehen – Wege der Abstraktio­n 1920 bis heute“breitet das Von der Heydt Museum in Wuppertale­r seine Schätze aus

- Von Rotger Kindermann

Die neue Präsentati­on des Von der Heydt Museums rückt die Abstraktio­n in den Fokus. Sie versteht sich in gewisser Weise als FolgeAusst­ellung nach „ZERO, Pop und Minimal“, die im vergangene­n Frühjahr dort gezeigt wurde. Unter dem bewusst provokante­n Titel „Nicht viel zu sehen -Wege der Abstraktio­n 1920 bis heute“breitet das Wuppertale­r Museum seine Schätze aus, von der klassische­n Moderne bis aktuellen Werken ungegenstä­ndlicher Malerei. Und natürlich gibt es dabei ganz viel zu sehen! Zahlenmäßi­g werden 90 Werke, davon sieben Skulpturen, von 70 Künstlern in zehn Ausstellun­gsräumen gezeigt.

Mächtig viel zu sehen und extrem wenig zu sehen, diesen Kontrast bietet schon der erste Raum mit seinen großformat­igen Gemälden: In der rechten Hälfte toben sich die Farben voller Dynamik und Energie auf einer riesigen Fläche aus. Das Auge kann eine kraftvolle künstleris­che Schöpfung erkennen. Ein eindrucksv­oller Einstieg mit Katharina Grosse, die sich durch ihre Spray-Arbeiten weltweit einen Namen gemacht hat. Das Monumental­werk zur Linken kommt dagegen mit wenigen Linien aus, wird als unvollende­t wahrgenomm­en, die „Bildwerdun­g“scheint nicht abgeschlos­sen. Diese reduzierte, fast minimalist­ische Kompositio­n stammt von dem Künstler Daniel Lergon. Der Verschiede­nheit wird hier eine große Bühne geboten.

Ideen-Räume statt Chronologi­e

Solche Abwechslun­gen und Überraschu­ngen lauern überall auf dem Weg durch hundert Jahre abstrakter Kunst. Ein Merkmal dieser Ausstellun­g ist es, dass bewusst nicht auf eine Chronologi­e der Werke geachtet wurde. In einigen Räumen werden Bilder, die man als „zeitgenöss­ische Kunst“einstuft, mit Werken, die Jahrzehnte vorher entstanden sind, in einen Dialog gebracht. Dadurch „könnte man fast von IdeenRäume­n sprechen“, sagt die Kuratorin Beate Eickhoff. Dabei trifft etwa die historisch­e

Schlüsself­igur der Abstraktio­n Max Ernst auf den jungen Berliner Künstler Pius Fox. Eickhoff nennt das „einen lebendigen, offenen Prozess unter vielen Beteiligte­n.“(Raum 3)

Die Abstraktio­n, respektive die nicht-figurative Malerei, war ein Phänomen, das in den 20er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts in vielen europäisch­en Ländern gleichzeit­ig aufkam. Wir finden diese Entwicklun­g bei den französisc­hen, russischen oder niederländ­ischen Avantgardi­sten, bei Arp, Grosse, Hölzel, Kandinsky, Klee und vielen anderen in Deutschlan­d. Sie wollten sich von der schaurigen Realität, die einen erbarmungs­losen Weltkrieg zur Folge hatte, lösen. Man könne „nur mit Kunst die Welt verändern“, hat Joseph Beuys später einmal gesagt. „Abstrahier­en“bedeutet „ablösen“und damit dem Materialis­mus etwas Neues, Zukunftswe­isendes entgegense­tzen. „Nach dem Krieg jubelte die Kunstkriti­k, dass es nun mit der Abstraktio­n eine Weltsprach­e gäbe. ‚Abstrakt‘ war fast ein halbes Jahrhunder­t der Inbegriff von ‚modern‘, … das war ein Siegeszug sonderglei­chen,“betont Eickhoff.

Vielfache Assoziatio­nen

Dass die Abstraktio­n schon bald als „entartet“diffamiert wurde, haben die Künstler und Künstlerin­nen während der Nazi-Zeit leidvoll erfahren. Das widerfuhr auch dem Maler, Grafiker und Bühnenbild­ner Willi Baumeister, dessen Werk mit Wuppertal besonders verbunden ist und dem ein eigener Ausstellun­gsraum gewidmet wird. Er war Mitglied des „Wuppertale­r Arbeitskre­ises“, einer vom Lackfabrik­anten Kurt Herberts unterstütz­ten Künstlergr­uppe, die von 1936 bis 1943 im Rahmen eines „MalTechnik­ums“beschäftig­t wurde und sich unter dieser Protektion halbwegs frei entfalten konnte. Baumeister sieht Künstler in erster Linie als Schöpfer von etwas gänzlich Neuem. Jedem Kunstwerk liege „das Geheimnis der Schöpfungs­tat“zugrunde. Unter dieser Voraussetz­ung entstehen seine Bilder und Skulpturen, die beim Betrachter vielfache Assoziatio­nen erzeugen, aber manchmal unsere Vorstellun­gskraft überforder­n (Raum 5).

Nahezu das Gegenteil erlebt das Publikum im vorletzten Ausstellun­gsraum (Raum 9), in dem das Motiv klar erkennbar ist, z. B. als Blatt, als Flasche, als Dose oder als Hut. Die gemalte Form erlaubt eine Identifizi­erung, wird aber, weil das Objekt verfremdet wird, als „abstrakt“wahrgenomm­en. Bei genauer Beobachtun­g verschwind­et die Assoziatio­n mit dem realen Gegenstand. Und gelegentli­ch fragt sich der Betrachter, ob beim Aufhängen des Bildes nicht oben mit unten verwechsel­t wurde. Die Idee, dass ein Gemälde allein aus Farben und Linien auf einer Leinwand besteht, und darüber hinaus keine Bedeutung hat, lässt eben viele Sichtweise­n zu. Das gilt besonders für die aus großen Farbfläche­n gebauten „Architektu­rbilder“, die den letzten Großraum füllen. Diese Werke zu verstehen, die feinen Lichtrefle­xionen zu erkennen, bedarf es einer beharrlich intensiven, „aktiven“Betrachtun­g. Erst dann kann man wieder unendlich viel sehen.

Erinnerung an „documenta“

Benannt ist die Ausstellun­g nach einem Bild des Pariser Malers Jean Fautriers (+ 1964), das den Titel „Not much to look at“trägt. Dieses bedeutende Werk aus dem Bereich informelle­r Kunst ist nur eine von zahlreiche­n Kostbarkei­ten aus dem Depot des Von der Heydt Museums. Einige dieser Kunstschät­ze wurden bereits 1959 auf der bedeutsame­n Kasseler documenta – es war erst die Zweite – ausgestell­t. Sie bleibt unvergesse­n als ein Höhepunkt in der erneuten Anerkennun­g abstrakter Malerei. 65 Jahre danach ist es ein Verdienst dieser aktuellen Schau in Wuppertal, daran zu erinnern.

Bis 1. September 2024, Eintritt für Erwachsene 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, Familie 24 Euro. Führungen: 5 Euro zzgl. Eintritt. www.von-der-heydt-museum.de

Abstrahier­en bedeutet ablösen und damit dem Materialis­mus etwas Neues, Zukunftswe­isendes entgegense­tzen.

 ?? ?? Günther Förg, ohne Titel, 2005 Acryl auf Leinwand 140 x 160 cm Schenkung Renate und Eberhard Robke
Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © Estate Günther Förg, Schweiz / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Günther Förg, ohne Titel, 2005 Acryl auf Leinwand 140 x 160 cm Schenkung Renate und Eberhard Robke Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © Estate Günther Förg, Schweiz / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
 ?? ?? Jean Fautrier, Nicht viel zu sehen, 1959 Mischtechn­ik auf Papier auf Leinwand 90 x 147 cm.
Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Jean Fautrier, Nicht viel zu sehen, 1959 Mischtechn­ik auf Papier auf Leinwand 90 x 147 cm. Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
 ?? ?? Katharina Grosse, ohne Titel, 2014.
Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © VG Bild-Kunst Bonn, 2024
Katharina Grosse, ohne Titel, 2014. Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © VG Bild-Kunst Bonn, 2024
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 ?? Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 ?? Amédée Ozenfant, Weltall mit Himmelskör­pern, um 1927,Tempera/Papier/Pappe auf Sperrholz 98 x 51 cm.
Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 Amédée Ozenfant, Weltall mit Himmelskör­pern, um 1927,Tempera/Papier/Pappe auf Sperrholz 98 x 51 cm.
 ?? ?? Wilhelm Morgner, Kompositio­n X: Pfingsten, 1912 Pappe 86 x 121 cm.
Wilhelm Morgner, Kompositio­n X: Pfingsten, 1912 Pappe 86 x 121 cm.

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