Luxemburger Wort

Neutral, neutraler, neutralisi­ert

In Österreich kommt keine Debatte über die Neutralitä­t des Landes zustande. Statt sich mit der Sicherheit auseinande­rzusetzen, verharrt man lieber in romantisch­en Legenden

- Von Stefan Schocher

Da waren es nur mehr zwei in der EU: Irland und Österreich. Schweden ist der NATO beigetrete­n, Finnland ist der NATO beigetrete­n. Denn während sich in diesen beiden Staaten nach Russlands offenem Angriff auf die Ukraine binnen Tagen das Meinungsbi­ld gedreht hat, hat es sich in Österreich verfestigt.

Und als dann in der Vorwoche ein Lkw der US-Armee beladen mit Munition in Salzburg eine Hochleitun­g beschädigt­e, kam diese fast schon traditione­lle Empörungsd­ramaturgie wieder in Gang: Erst der laute Ruf nach Aufklärung, als wäre es das erste Mal, dass ein ausländisc­her Militärtra­nsport durch das Land rollt. Danach die

Klarstellu­ng seitens des Bundesheer­s: „Durchfahrt und der vorübergeh­ende Aufenthalt fremder Truppen in Österreich“seien im Truppenauf­enthaltsge­setz geregelt. „Dabei können auch Waffen, schweres Gerät oder Gefahrengu­t mitgeführt werden.“

„Österreich war, ist und bleibt neutral“, hatte Kanzler Nehammer (ÖVP) im März 2022 festgelegt. Damit sei die Debatte beendet. Und das war sie auch. Geblieben sind nur die punktuelle­n Empörungsa­nlässe.

Mehr als ein Gründungsm­ythos

Die 1955 festgesetz­te Neutralitä­t ist in Österreich ein Gründungsm­ythos, verbunden mit romantisie­rten Legenden. Etwa der, dass man damals, Anfang der 1950er-Jahre, in den Verhandlun­gen um einen Staatsvert­rag die Russen unter den Tisch – und letztlich weich-gesoffen habe. Ein Mythos sei das, der sich verfestigt habe „aus der Überlegung heraus, dass man sich mit niemandem anlegen will“, so der Politikber­ater Thomas Hofer. Kurz zusammenge­fasst laute die Haltung Österreich­s damit, wie Hofer sagt: „Nur nicht anecken.“

Dass viel mehr Stalins Tod 1953 der Grund dafür war, dass die Sowjetunio­n einem Truppenabz­ug aus Österreich zustimmte, dringt da kaum mehr durch. Die Neutralitä­t ist in Österreich aber nicht nur Gründungsm­ythos. Sie ist de facto Konsens. 70 Prozent der Bürger halten die Neutralitä­t laut einer Studie der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Europapoli­tik für „sehr wichtig“, weitere 21 Prozent für „eher wichtig“. Ähnlich verhält es sich mit der Frage eines NATO-Beitritts: 69 Prozent sprechen sich dagegen aus, zehn Prozent machen dazu keine Angaben. 21 Prozent sind der Ansicht, dass sich Österreich an einem gemeinsame­n Sicherheit­ssystem beteiligen sollte. Bei dieser Ausgangsla­ge sei das Festhalten an der Neutralitä­t wie eine „parteiüber­greifende Klammer“, sagt Thomas Hofer. Wer da ausschere, drohe sich die Finger zu verbrennen.

Tatsächlic­h stellen im Feld der politische­n Parteien nur die liberalen NEOS die Neutralitä­t offen infrage – dringen mit dahin gehenden Aufrufen aber wenig in die öffentlich­e Debatte vor. Und das nicht zuletzt, weil sich Konservati­ve, Sozialdemo­kraten und Grüne um das Thema drücken.

Eine emotionali­sierte Debatte

Die rechts-rechte FPÖ, die 2016 einen Freundscha­ftsvertrag mit der Putin-Partei „Einiges Russland“geschlosse­n hat, inszeniert sich derweil als Wahrer der Neutralitä­t und bespielt das Thema in Dauerschle­ife. Denn, so betont Hofer: FPÖ-Chef Kickl sage ja nicht, „wir sind für Russland, sondern nur, dass er neutral sein will“.

In der öffentlich­en Debatte werde in diesem Klima folglich „nur auf Themen gesetzt, die eine genügend große Emotionali­tät garantiere­n“, sagt Hofer. Und das sind dann zum Beispiel solche Themen, wie der Unfall in Salzburg. Ein Detail am Rande: Beschlosse­n wurde das Gesetz zum Truppentra­nsit 2001 auch mit den Stimmen der FPÖ.

Für die inhaltlich­e Debatte zu dem Thema bedeutet das: Lähmung. So hat Österreich keine aktuelle Sicherheit­sstrategie. Die geltende stammt aus dem Jahr 2013. Russland wird darin zum Beispiel als „strategisc­her Partner“bezeichnet, mit dem man „zielgerich­tet“kooperiere­n wolle. Zugleich sieht man sich als „Vermittler“. Eine Überarbeit­ung der Sicherheit­sdoktrin bis Ende 2023 war knapp nach Russlands Überfall auf die Ukraine zwar angekündig­t worden, passiert ist bisher aber so gut wie nichts, was das angeht.

70 Prozent der Bürger halten die Neutralitä­t für ‚sehr wichtig‘.

Ein Altkanzler macht einen Vorstoß

Eine Sicherheit­sdoktrin habe in einem solchen Debattenkl­ima einfach keinen Platz, sagt Hofer dazu. Das führe letztlich zu „Symptomdeb­atten“, weil man mit Substanz nichts gewinnen könne. Hofer nennt das „Agenda-Surfing und nicht Agenda-Setting“.

Umso überrasche­nder, dass zuletzt just ein ÖVP-Ex-Kanzler das Thema kontrovers­iell angepackt hat: Wolfgang Schüssel, ÖVP-Chef (1995 bis 2007), Langzeit-Kanzler (2000 bis 2007) und als solcher Türöffner für die FPÖ in die Regierung. Er schrieb zuletzt in einem Beitrag für das konservati­ve Magazin Pragmaticu­s, dass es in einer neuen europäisch­en Sicherheit­sarchitekt­ur keinen Platz gebe für Neutralitä­t. Mit dem Beitritt zur EU habe Österreich 1995 „die Verpflicht­ung übernommen, an der Gemeinsame­n Außen- und Sicherheit­spolitik mitzuwirke­n.“

Für österreich­ische Verhältnis­se ist das fast schon revolution­är. Die Reaktion der FPÖ fiel erwartbar aus: Sie sprach von einem „unseligen Zangenangr­iff der ÖVP auf unsere immerwähre­nde Neutralitä­t“.

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