Neutral, neutraler, neutralisiert
In Österreich kommt keine Debatte über die Neutralität des Landes zustande. Statt sich mit der Sicherheit auseinanderzusetzen, verharrt man lieber in romantischen Legenden
Da waren es nur mehr zwei in der EU: Irland und Österreich. Schweden ist der NATO beigetreten, Finnland ist der NATO beigetreten. Denn während sich in diesen beiden Staaten nach Russlands offenem Angriff auf die Ukraine binnen Tagen das Meinungsbild gedreht hat, hat es sich in Österreich verfestigt.
Und als dann in der Vorwoche ein Lkw der US-Armee beladen mit Munition in Salzburg eine Hochleitung beschädigte, kam diese fast schon traditionelle Empörungsdramaturgie wieder in Gang: Erst der laute Ruf nach Aufklärung, als wäre es das erste Mal, dass ein ausländischer Militärtransport durch das Land rollt. Danach die
Klarstellung seitens des Bundesheers: „Durchfahrt und der vorübergehende Aufenthalt fremder Truppen in Österreich“seien im Truppenaufenthaltsgesetz geregelt. „Dabei können auch Waffen, schweres Gerät oder Gefahrengut mitgeführt werden.“
„Österreich war, ist und bleibt neutral“, hatte Kanzler Nehammer (ÖVP) im März 2022 festgelegt. Damit sei die Debatte beendet. Und das war sie auch. Geblieben sind nur die punktuellen Empörungsanlässe.
Mehr als ein Gründungsmythos
Die 1955 festgesetzte Neutralität ist in Österreich ein Gründungsmythos, verbunden mit romantisierten Legenden. Etwa der, dass man damals, Anfang der 1950er-Jahre, in den Verhandlungen um einen Staatsvertrag die Russen unter den Tisch – und letztlich weich-gesoffen habe. Ein Mythos sei das, der sich verfestigt habe „aus der Überlegung heraus, dass man sich mit niemandem anlegen will“, so der Politikberater Thomas Hofer. Kurz zusammengefasst laute die Haltung Österreichs damit, wie Hofer sagt: „Nur nicht anecken.“
Dass viel mehr Stalins Tod 1953 der Grund dafür war, dass die Sowjetunion einem Truppenabzug aus Österreich zustimmte, dringt da kaum mehr durch. Die Neutralität ist in Österreich aber nicht nur Gründungsmythos. Sie ist de facto Konsens. 70 Prozent der Bürger halten die Neutralität laut einer Studie der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik für „sehr wichtig“, weitere 21 Prozent für „eher wichtig“. Ähnlich verhält es sich mit der Frage eines NATO-Beitritts: 69 Prozent sprechen sich dagegen aus, zehn Prozent machen dazu keine Angaben. 21 Prozent sind der Ansicht, dass sich Österreich an einem gemeinsamen Sicherheitssystem beteiligen sollte. Bei dieser Ausgangslage sei das Festhalten an der Neutralität wie eine „parteiübergreifende Klammer“, sagt Thomas Hofer. Wer da ausschere, drohe sich die Finger zu verbrennen.
Tatsächlich stellen im Feld der politischen Parteien nur die liberalen NEOS die Neutralität offen infrage – dringen mit dahin gehenden Aufrufen aber wenig in die öffentliche Debatte vor. Und das nicht zuletzt, weil sich Konservative, Sozialdemokraten und Grüne um das Thema drücken.
Eine emotionalisierte Debatte
Die rechts-rechte FPÖ, die 2016 einen Freundschaftsvertrag mit der Putin-Partei „Einiges Russland“geschlossen hat, inszeniert sich derweil als Wahrer der Neutralität und bespielt das Thema in Dauerschleife. Denn, so betont Hofer: FPÖ-Chef Kickl sage ja nicht, „wir sind für Russland, sondern nur, dass er neutral sein will“.
In der öffentlichen Debatte werde in diesem Klima folglich „nur auf Themen gesetzt, die eine genügend große Emotionalität garantieren“, sagt Hofer. Und das sind dann zum Beispiel solche Themen, wie der Unfall in Salzburg. Ein Detail am Rande: Beschlossen wurde das Gesetz zum Truppentransit 2001 auch mit den Stimmen der FPÖ.
Für die inhaltliche Debatte zu dem Thema bedeutet das: Lähmung. So hat Österreich keine aktuelle Sicherheitsstrategie. Die geltende stammt aus dem Jahr 2013. Russland wird darin zum Beispiel als „strategischer Partner“bezeichnet, mit dem man „zielgerichtet“kooperieren wolle. Zugleich sieht man sich als „Vermittler“. Eine Überarbeitung der Sicherheitsdoktrin bis Ende 2023 war knapp nach Russlands Überfall auf die Ukraine zwar angekündigt worden, passiert ist bisher aber so gut wie nichts, was das angeht.
70 Prozent der Bürger halten die Neutralität für ‚sehr wichtig‘.
Ein Altkanzler macht einen Vorstoß
Eine Sicherheitsdoktrin habe in einem solchen Debattenklima einfach keinen Platz, sagt Hofer dazu. Das führe letztlich zu „Symptomdebatten“, weil man mit Substanz nichts gewinnen könne. Hofer nennt das „Agenda-Surfing und nicht Agenda-Setting“.
Umso überraschender, dass zuletzt just ein ÖVP-Ex-Kanzler das Thema kontroversiell angepackt hat: Wolfgang Schüssel, ÖVP-Chef (1995 bis 2007), Langzeit-Kanzler (2000 bis 2007) und als solcher Türöffner für die FPÖ in die Regierung. Er schrieb zuletzt in einem Beitrag für das konservative Magazin Pragmaticus, dass es in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur keinen Platz gebe für Neutralität. Mit dem Beitritt zur EU habe Österreich 1995 „die Verpflichtung übernommen, an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mitzuwirken.“
Für österreichische Verhältnisse ist das fast schon revolutionär. Die Reaktion der FPÖ fiel erwartbar aus: Sie sprach von einem „unseligen Zangenangriff der ÖVP auf unsere immerwährende Neutralität“.