Iren stimmen gegen Verfassungsänderungen
Für die Regierung ist es eine schwere Schlappe. Eine Rückkehr zu den erzkonservativen Werten der Vergangenheit markiert die Entscheidung aber vermutlich nicht
Irlands Regierung begann Anfang der Woche, sich mit den Folgen der schweren Niederlage bei zwei Referenden am vergangenen Freitag zu befassen. Vertreter der Dreiparteienkoalition, die das Land seit Dezember 2022 regiert, zeigten sich vor allem durch den überwältigend hohen NeinStimmenanteil geschockt.
Fast alle politische Parteien des Landes hatten sich für Änderungen zweier Artikel in der Verfassung aus dem Jahr 1937 ausgesprochen, die unter dem Einfluss der katholischen Kirche entstanden war: Die erste vorgeschlagene Änderung zielte darauf ab, die verfassungsmäßige Definition der Familie zu erweitern, um andere „beständige Beziehungen“wie unverheiratete Paare und Alleinerziehende einzubeziehen. Die zweite Änderung sah eine Änderung eines Artikels vor, der festlegt, dass Mütter ihre „Aufgaben im Zuhause“nicht vernachlässigen dürfen, um arbeiten zu gehen.
Die irischen Wählerinnen und Wähler lehnten die Erweiterung des Familienbegriffs mit 67,7 Prozent der Stimmen ab. Gegen eine Änderung der verfassungsgemäßen Rolle von Müttern stimmten sogar 73,9 Prozent. Es war der höchste Anteil an Nein-Stimmen bei einem irischen Referendum. Die Wahlbeteiligung lag jedoch bei gerade einmal 44,4 Prozent – deutlich weniger als die 64,1 Prozent, die beim Referendum 2018 an die Wahlurnen gingen.
Ein Regierungsinsider bezeichnete das Ergebnis gegenüber der Tageszeitung Irish Times als „seismisch“und zeigte sich besorgt mit dem Blick auf die Kommunal- und Europawahlen in diesem Sommer und die möglichen Parlamentswahlen, die ebenfalls noch in diesem Jahr abgehalten werden könnten. „Die Proteste und die Unzu
friedenheit könnten schwer einzudämmen sein.“
Schon jetzt führt die Niederlage zu Streit innerhalb der Regierungskoalition. Mary Butler, Staatsministerin für Gesundheit und Abgeordnete des kleineren Koalitionspartners Fianna Fáil, sagte am Sonntag in einem Radiointerview: „Nicht jeder in der Regierung stand dahinter.“Damit meine sie Kolleginnen und Kollegen in allen drei Regierungsparteien, fügte sie hinzu. Die Wählerinnen und Wähler hätten der Regierung „einen Denkzettel verpasst“. Die Erklärungen der Regierung zu den vorgeschlagenen Verfassungsänderungen hätten „vielen Menschen nicht die erforderliche Sicherheit geboten“. Das habe die Regierung zu
verantworten. Premierminister Leo Varadkar räumte ein, dass die Referenden „klar gescheitert“seien. Die Regierung akzeptiere das Ergebnis und werde es „vollständig respektieren“.
Seine Position als Regierungschef erscheint derzeit trotz des Fiaskos nicht in ernsthafter Gefahr zu sein. Eine schallende Ohrfeige für das politische Establishment des Landes ist die Niederlage trotzdem.
Denn der Großteil der Menschen in Irland nimmt die beiden Verfassungsartikel, die geändert werden sollten, durchaus als veraltet wahr. So werden heute zwei Fünftel aller Kinder außerhalb der Ehe geboren. Die meisten Frauen gehen in Irland heute genauso selbstverständlich arbeiten wie in anderen europäischen Staaten. Eine Rückkehr zu den erzkonservativen Werten aus früheren Zeiten oder gar ein Wiedererstarken der katholischen Kirche markiert das Referendum aus der Sicht vieler Beobachter nicht. So haben die Irinnen und Iren 2015 mit 62 Prozent der Stimmen für die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt. 2018 sprachen sich bei einem Referendum 66,4 Prozent dafür aus, Abtreibungen zu legalisieren.
Stattdessen haben die Wählerinnen und Wähler die Regierung offenbar vor allem dafür abgestraft, dass sie die geplanten Verfassungsänderungen überhastet eingeführt und ihren Zweck nicht klar genug kommuniziert hat. Kritiker bemängelten zudem, dass Befürworter der Verfassungsänderungen nicht ausreichend auf die Sorgen vor möglichen rechtlichen Konsequenzen eingegangen seien.
So warnten Juristen vor einer Welle von Rechtsstreitigkeiten, die sich aus der Frage ergeben könnten, was eine „beständige Beziehung“darstelle. Die Sorge: Das Versäumnis, die neue Formulierung in der Verfassung klar zu definieren, hätte zu Erbstreitigkeiten führen können und zu Schwierigkeiten beim Familien- und Steuerrecht.
Aktivisten, die sich für die Rechte Behinderter einsetzen, warben ebenfalls für ein „Nein“zu den geplanten Änderungen. Sie bemängelten die vorgeschlagene Formulierung, wonach sich der Staat lediglich „bemühen“solle, Familienmitglieder bei der Pflege zu unterstützen.
Eine Fianna Fáil-Ministerin beklagte sich darüber, dass sich die Regierung auf „Nischenangelegenheiten“konzentriert habe. Die Botschaft der Wählerinnen und Wähler lautete, sich wieder auf große Themen zu konzentrieren.