Der Duft von Zimt
24
Bei dem Gedanken schlug sein Herz schneller. Zwar war er sich sicher, dass Fritz Thielemann ihn mochte, schließlich kaufte Christian schon seit Jahren sein Brot ausschließlich in Thielemanns Backhus, lobte dessen Backkünste regelmäßig. Doch die Vorstellung, sich diesem Mann erklären zu müssen, behagte ihm nicht. Was, wenn er einen anderen Kandidaten im Blick hatte? Oder wenn er ahnte, wie wenig Christian vom Backen verstand?
Ein Nachfolger für seine Bäckerei konnte Christian natürlich nicht werden. Schließlich schätzte er zwar die knusprige Rinde von Thielemanns Brot, doch mehr nahm er nicht wahr. Seitdem er als Kind schwer an Scharlach erkrankt war, konnte Christian kaum noch etwas schmecken. Nur die Wirkung von viel Zucker, Pfeffer oder scharfer Paprika kam zaghaft bei ihm an.
Zwar hatte ihm sein Vater, ein umtriebiger, aber unter den aktuellen politischen Umständen leider erfolgloser Kaufmann, eingetrichtert, er könne durchaus eine Bäckerei übernehmen. Er müsse ja nicht selbst backen, sondern könne einen Bäckermeister anstellen, oder aber den Laden gewinnbringend veräußern, sobald die Franzosen die Stadt geräumt hatten.
Doch möglicherweise ahnte Herr Thielemann, dass Christian genau das tun würde. Vielleicht war er stattdessen auf der Suche nach einem richtigen Bäcker, dem er Josephine zur Frau geben könnte. Christian sollte bald beginnen, ihr den Hof zu machen. Zuerst würde der Eibisch Josephine zuflüstern, welche zarte Schönheit sie war, danach würde Christian mit Herrn Thielemann sprechen.
Tief in Gedanken versunken hob er eine Hand, um sich vom Posthalter zu verabschieden und mit seiner morgendlichen Runde zu beginnen, als der Maître rief: „Ah, Monsieur Schulte, un moment, s’il vous plaît, ich habe eine Frage!“
„Natürlich.“Christian drehte sich wieder zu ihm um.
„Haben Sie die Augen offen gehalten? Sie wissen schon…“
„Oh.“Christian spürte, dass er rot wurde. Er hatte gehofft, dass der Posthalter vergessen haben möge, worum er ihn gebeten hatte. Doch es führte wohl kein Weg daran vorbei. Christian sah auf seine Fußspitzen, während er sagte: „Nun ja … Der Metzger aus der Lilienstraße wirkt auf mich nicht ganz … vertrauenswürdig.
Als ich kam, war der Verkaufsraum voller Menschen, doch sobald sie mich sahen, wurde es mit einem Mal totenstill – möglicherweise war das ja eine verbotene Versammlung?“
„Interessant“, sagte der Posthalter. „Und weiter?“
Christian schluckte. Doch er musste an das denken, was sein
Vater ihm geraten hatte: „Wenn du etwas erreichen willst im Leben, dann musst du jede Chance ergreifen, die dir geboten wird, hörst du? Jede!“
Langsam fügte Christian also hinzu: „Gleich nebenan im Gasthaus habe ich jemanden gesehen, der einen schweren Sack die Treppe hinaufgeschleppt hat …“
Der Posthalter nickte. „Très bien. Vielen Dank. Halten Sie bitte weiter die Augen offen. Sie können gehen.“
Während Christian die erste Straße mit Post belieferte, versuchte er, jeden Gedanken an das Gespräch beiseitezuschieben. Viel lieber dachte er an Josephine und an die Eibischblüte in seiner Brieftasche. Still lächelte er in sich hinein. Seit Stunden wirbelte Josephine allein und gedankenverloren durch die Backstube, schob Bleche in den Ofen, verrührte und formte Teig. Hinter ihr lag eine unruhige Nacht. Immer wieder war sie aufgewacht und hatte an die Bäckerei gedacht. Sie konnte Onkel Fritz ja verstehen. Jedes Mal, wenn er stundenlang in der Stadt unterwegs war, um an Zutaten zu kommen, ging er ein enormes Risiko ein. Würde er erwischt, könnte er ins Zuchthaus geworfen werden. Und das Zuchthaus war in diesen Zeiten ein noch weitaus düsterer Ort als früher schon. Man munkelte, es sei vollkommen überfüllt und von den schlimmsten Krankheiten heimgesucht. Ein ums andere Mal, wenn Onkel Fritz länger fort war, bekam sie vor Angst um ihn Bauchschmerzen.
Und doch … Sie wollte lieber all diese Widrigkeiten in Kauf nehmen, als dieses Haus zu verlassen. Sie gehörte hierher. An den Ort, an dem sie geboren und ihre Mutter gestorben war. Wo sie mit ihren Schwestern aufgewachsen war, von ihrem Onkel das Backen, Verkaufen und Buchhalten gelernt hatte. Wo sie vom kleinen Mädchen zur Frau geworden war. Seitdem ihr Cousin Hans verkündet hatte, in den Krieg zu ziehen, hatte sie sich ihre Zukunft in diesem Haus vorgestellt. Sie hatte davon geträumt, an der Seite des Mannes, den sie eines Tages heiraten würde, die Bäckerei zu übernehmen, in den kleinen Kammern im ersten Stock ihre Kinder großzuziehen, während der Geruch nach Geduldzetteln, Pfeffernüssen und Rhabarberkuchen in der Luft lag. Sie selbst würde Fritz’ Tradition fortführen, sich um den Rosenstrauch im Hinterhof zu kümmern. Sie würde die Blütenblätter sammeln und Rosenwasser herstellen, und sobald sie wieder Geduldzettel backen könnte, die gut gelangen, würde Hamburg endlich aufatmen, würden die Franzosen endlich abziehen. Doch wenn Josephine und Fritz jetzt gingen, dann hatten die Franzosen gewonnen, dachte sie. Dann hatten sie ihnen alles genommen.
Den Nachtwächter hatte sie bereits am offenen Fenster erwartet. Dann war sie hinuntergeschlichen. Onkel Fritz ließ sie schlafen, schließlich hatte sie eine Idee.
„Warum hast du mich nicht geweckt?“, krächzte er nun schlaftrunken in der offenen Tür.
Josephine antwortete nicht. Sie drehte sich zurück zum Ofen, zog ein Blech heraus und lächelte zufrieden. Stolz präsentierte sie ihm die frischen Geduldzettel. Sie waren rund, hell und perfekt.
„Heute wird ein guter Tag“, entschied sie.
„Und ich habe eine Entscheidung getroffen. Glaub mir, ich verstehe gut, dass du nach Altona gehen willst. Aber ich werde hierbleiben und die Bäckerei weiterführen.“