Brests kuriose Saison ist jetzt schon historisch
Ein ehemaliger TV-Kommentator führt die Überraschungsmannschaft der Ligue 1 zum Erfolg. Das Team ist auf Champions-League-Kurs
„Sie haben uns eine Partie und einen Rhythmus abverlangt, die ChampionsLeague-Niveau hatten.“Sichtlich erschöpft trat Brice Samba am Samstagabend vor die Fernsehkameras und fügte hinzu: „Ich bin mental völlig ausgelaugt.“Für diese körperliche und geistige Auszehrung des 29-jährigen Torhüters des RC Lens waren die Spieler aus Brest verantwortlich, die dem Vizemeister der vergangenen Saison vor 38.000 Zuschauern im ausverkauften Lenser Stade Bollaert 90 Minuten lang einen packenden Kampf geliefert hatten.
Torchancen, Torschüsse, Ballbesitz, eroberte Bälle, Ecken, Flanken: In all diesen Statistiken dominierten die Gäste aus der Bretagne am Ende klar. Nur in einer nicht: Lens gewann das Spiel glücklich mit 1:0. Dieses Gefühl der Niederlage hatten die Gäste in der Liga seit November nicht mehr zu spüren bekommen. Eine Serie von 13 ungeschlagenen Partien ging für die Bretonen am Samstag zu Ende, die sie auf Platz zwei der Tabelle katapultiert hatte. So gut stand der Club in seiner 74-jährigen Geschichte noch nie in der französischen Eliteklasse da. Und das ist nicht die einzige kuriose Note einer Saison, die schon jetzt historisch ist.
Denn eine der Säulen des Erfolgs ist unbestreitbar Trainer Eric Roy. Als der 56-Jährige im Januar vergangenen Jahres die abstiegsgefährdete Mannschaft übernahm, kannten selbst eingefleischte Fans den ehemaligen Mittelfeldspieler allenfalls als Kommentator aus dem Fernsehstudio. Doch Trainer? Seine einzige Station in Nice lag damals bereits mehr als ein Jahrzehnt zurück.
Eine gewagte Wahl, die auch aufgrund zahlreicher Absagen zustande kam. Brest gehört im französischen Fußball eben nicht zu den begehrtesten Adressen. Doch die Nominierung Roys erwies sich als Volltreffer. Er schaffte es nicht nur, relativ souverän die Klasse zu halten, sondern in diesem Jahr ein soli
des Team zu formen, das sich einfach nicht aus der Spitzengruppe der Tabelle verdrängen lässt.
Wenig Geld und wenig Fans
Dabei sind die Voraussetzungen für erfolgreichen Profifußball in der 140.000 Einwohner zählenden Hafenstadt am nordwestlichen Zipfel der französischen Atlantikküste alles andere als rosig: Das Stade Francis-Le Blé fasst gerade einmal 15.000 Zuschauer und ist damit das zweitkleinste Stadion der Ligue 1. Mit einem Budget von 48 Millionen Euro für die laufende Saison gehört Brest zu den fünf finanzschwächsten Vertretern der ersten Liga.
Clubboss Denis Le Saint ist zwar zusammen mit seinem Bruder Gérard Eigentümer des bedeutendsten französischen Großhandels für frische Lebensmittel, sein Réseau Le Saint beschäftigte im Jahr 2023 rund 3.000 Mitarbeiter bei einem Umsatz von 800 Millionen Euro. Doch ist er eben weder ein Staatsfonds von der arabischen Halbinsel noch ein US-amerikanischer Milliardär. Seit dem Wiederaufstieg im Sommer 2019 gab der Verein 41,7 Millionen Euro für neue Spieler aus – insgesamt, wohlgemerkt.
Trotz dieser bescheidenen Mittel gelang es Grégory Lorenzi, der seit 2016 als Sportdirektor tätig ist, eine Mannschaft zusammenzustellen, die vor allem auf einer beeindruckenden Defensive aufbaut: Torhüter Marco Bizot behielt in dieser Saison bereits zehn Mal eine Weiße Weste und musste erst 19 Mal den Ball aus dem Netz holen. Besser verteidigten in den fünf großen europäischen Ligen bis dato nur Inter Mailand (13 Gegentore) und Real Madrid (18). Verlassen kann sich der 33-jährige Niederländer auf seine Vorderleute, eine rein französische Viererkette aus Bradley Locko, Lilian Brassier, Kapitän Brendan Chardonnet und Kenny Lala.
Doch das eigentliche Glanzstück dieser Brester Mannschaft ist ihre Spielweise: Variabilität im Spielaufbau, für den alle Spieler Verantwortung übernehmen, eine hohe technische Qualität und eine extrem intelligente Raumaufteilung, die auch Lens vor große Probleme stellte.
An der Stelle, an der Lens vor wenigen Monaten dem großen FC Arsenal in der Champions League eine fußballerische Lektion erteilt hatte, dominierte Brest seinen Gegner vor allem nach dem Seitenwechsel scheinbar nach Belieben. Allein der Pfosten stand nach einem Schuss von Mittelstürmer Martin Satriano einem Unentschieden im Weg, das nicht nur Trainer Roy nach dem Schlusspfiff als gerechtes Ergebnis empfunden hätte.
Trotz dieser Niederlage verteidigte Brest seinen zweiten Tabellenplatz und hat weiterhin beste Chancen, sich erstmals in seiner Geschichte für einen europäischen Wettbewerb zu qualifizieren. Und sollte das Team unter den ersten Drei landen, winkt sogar die Teilnahme an der Champions League. Das spielerische Niveau hat es ja schon.