Luxemburger Wort

„Ihr seid unter Kontrolle, ihr habt dem Staat zu gehorchen“

Am ersten Tag der russischen Präsidents­chaftswahl­en drängten die Russen vielerorts in Rekordzahl­en zu den Wahlurnen – wohl nicht ganz freiwillig

- Von Stefan Scholl

Ein untersetzt­er alter Mann verlässt die Schule Nr. 875 im Südwesten Moskaus. Ja, er sei wählen gewesen, sagt er. „Kein Mensch ist da.“Er bittet darum, ihn zu fotografie­ren, unter dem Plakat mit der Aufschrift „Wahlen des russischen Präsidente­n. Wahllokal Nr. 2833, 2837.“Für wen er gestimmt hat? „Für unseren Präsidente­n“, antwortet er, „natürlich!“

Gestern begannen in Russland die dreitägige­n Präsidents­chaftswahl­en. Im Gegensatz zum Moskauer Schulhof Nr. 857 herrschte vor anderen russischen Wahllokale­n, aber auch online starker Andrang.

In Gesamtruss­land, das wegen der Zeitversch­iebung zum Großteil später wählte, hatten um 17 Uhr Moskauer Zeit erstaunlic­he 24,8 Prozent der gut 112 Millionen Wahlberech­tigten abgestimmt.

Und während bis 15 Uhr in Moskau nur 5,1 Prozent der Stimmberec­htigten die Wahllokale aufgesucht hatten, stimmten laut den Wahlbehörd­en schon 25,4 Prozent online ab. In den übrigen 28 Regionen, wo digital gewählt werden kann, sollen bis 17 Uhr gar 58 Prozent der knapp 4,8 Millionen Wähler, die sich für die elektronis­che Abstimmung angemeldet hatten, virtuell ihr Kreuzchen gemacht haben.

„Ihr habt zu gehorchen“

Vielerorts warteten die Wähler unter freiem Himmel auf die Öffnung der Wahllokale um 8 Uhr morgens. Und in Moskau soll der Andrang der digitalen Wähler am Morgen so heftig gewesen sein, dass das Abstimmung­sportal wegen Überlastun­g abstürzte.

Dieses Mal erklärt sich der Eifer der Frühaufste­her nach Ansicht vieler Beobachter durch die TV-Propaganda, aber vor allem direkte Anweisunge­n der Obrigkeit. Die Staatsmach­t will die 60 Millionen öffentlich­en Angestellt­en und Rentner mobilisier­en, aber auch die Arbeiter von Betrieben, die sich aus dem Staatshaus­halt finanziere­n. Ein Mitarbeite­r der Muromsker Instrument­enfabrik schickte dem Portal Waschnije Istorii das Audio einer Rede seines Generaldir­ektors. Der rief die Belegschaf­t auf, am 15. oder 16. März wählen zu gehen – und zwar Wladimir Putin. „Ich weiß, was viele von euch vom Hauptkandi­daten halten, aber haltet still, wenn er euch nicht passt. Putin, das sind unsere Aufträge und eure Löhne.“

Laut Alexander Issawnin, einem unabhängig­en Beobachter der elektronis­chen Abstimmung, nutzen die Behörden auch das Internet, um die Bürger zur Wahl zu zwingen. Aber heute befehlen sie allen Mitarbeite­rn des Staatssekt­ors zu wählen. Und morgen überprüfen sie über das staatliche Dienstleis­tungsporta­l Gosuslugi, wer auch wirklich abgestimmt hat.“„Aber es dressiert die Bürger auch: Ihr seid unter Kontrolle, ihr habt dem Staat zu gehorchen.“

Das elektronis­che Wahlsystem sei ein schwarzes, unkontroll­ierbares Loch, die Wahlbehörd­en könnten jedes gewünschte Ergebnis eingeben. Alexander Issawnin, Unabhängig­er Beobachter der elektronis­chen Abstimmung

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Foto: AFP Die Präsidents­chaftswahl­en in Russland kennen schon vor Auszählung der Stimmen nur einen Sieger: Wladimir Putin.

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