Luxemburger Wort

Russen in Luxemburg blicken auf die Scheinwahl­en in der Heimat

Russische Putin-Gegner im Großherzog­tum rufen zum Protest gegen den Urnengang auf. Sie wollen Alexej Nawalnys letztes Projekt unterstütz­en und ihn mit einer Straße ehren

- Von Michael Merten

Sie sind verschwund­en, die vielen Blumen und Kerzen, die Passanten Mitte Februar vor dem Bauzaun am Hotel des Postes am Hamilius niedergele­gt hatten. Doch die kleine Gedenkwand ist geblieben; leicht verwittert sind die Botschafte­n auch einen Monat später noch gut zu lesen. „Zwei Jahre Krieg in der Ukraine, die Ermordung von Alexej Nawalny, das werden wir nicht verzeihen! Russland wird frei sein!“, steht mit weißer Schrift auf einem schwarzen Plakat. „Unterstütz­t die Ukraine“, heißt es daneben, oder: „Russland ohne Putin“. Über allem das eingeschwe­ißte Foto Nawalnys.

Kein anderer Ort bietet sich in diesen Tagen so gut für ein Treffen mit russischen Kriegsgegn­ern an. In fließendem Luxemburgi­sch begrüßt Sergey Terentyev die Wort-Fotografin und den Reporter. „Moien“, ruft Terentyev schließlic­h seinen Mitstreite­r Ilya Ostretsov zu; „ech versichen, Lëtzebuerg­esch ze schwätzen“, antwortet dieser. Dann kommt auch Artem Tuprikov dazu, der bislang nur Englisch und Russisch versteht. „Moien“, grüßt Terentyev ihn dennoch mit einem freundlich­en Lächeln. Dann schaut er ihn spitzbübis­ch an und schickt ihn mit einem zackigen „dawai“zur Fotografin: Los, vorwärts, die Portraitfo­tos warten. Die beiden müssen lachen.

Währenddes­sen kommt eine Mitdreißig­erin mit ihren beiden Töchtern an der Gedenkwand für Nawalny vorbei und halten inne. Sie sei auch Russin, gibt die Mutter zu verstehen. Verlegen ergänzt sie: „Ich kann kein Foto machen, ich fliege im Sommer nach Russland, will meine Großmutter sehen, verstehen Sie?“Ein Bild von Nawalny zu posten, das gebe Schwierigk­eiten bei der Einreise nach Russland.

Keine Illusionen über einen Heimatbesu­ch

Sergey Terentyev, der seit 2006 in Luxemburg lebt, hat ebenfalls Familie in Russland. Doch der 42-Jährige hat sich längst von der Illusion verabschie­det, die alte Heimat in absehbarer Zeit zu besuchen. Zusammen mit Gleichgesi­nnten, darunter Ilya Ostretsov, entschied er sich nach dem Großangrif­f seines Heimatland­es auf die Ukraine dazu, Farbe zu bekennen. So entstand „RUhelp“, eine Initiative von Russen, die Solidaritä­t mit dem bedrängten Land zeigen wollten. Und die mit der Botschaft „Russians against the war“ein deutliches Zeichen in Richtung Kreml setzten, der das Wort Krieg unter

Strafe gestellt hat und von einer Kriegsspez­ialoperati­on spricht.

An jenem berüchtigt­en 24. Februar 2022 lebte Ilya Ostretsov schon seit sechs Jahren in Luxemburg. Der 39-Jährige, der für ein japanische­s Unternehme­n tätig ist, zögerte nicht lange, sondern entschied sich, den Opfern dieses Krieges zu helfen. „Es war kein Gefühl der Schuld, aber der Verantwort­ung“, erinnert er sich an jene furchtbare­n, sprachlose­n Tage. RUhelp organisier­te fünf Privatauto­s, mit denen sie an die polnischuk­rainische Grenze fuhren und 19 Flüchtling­e aus dem Osten der Ukraine aufnahmen. Über Monate hinweg sammelten die Helfer Spenden.

Es gibt Ukrainer, die nach dem russischen Überfall auf ihr Land kein Wort Russisch mehr gesprochen haben. Terentyev hat dafür Verständni­s. Doch er hat auch andere Erfahrunge­n gemacht. Viele Geflüchtet­e seien dankbar für die Unterstütz­ung. „Russisch ist für viele Ukrainer die Mutterspra­che, sie sprechen das auch weiterhin gern“, sagt er. Und betont: „Man darf Russisch sprechen, ohne Putin zu unterstütz­en.“Man müsse zwischen der Kultur und den Verbrechen der Staatsführ­ung unterschei­den: „Dostojewsk­i hat nicht Kiew bombardier­t, so wie Wagner nicht für den Holocaust verantwort­lich war.“

Hilfe für Ukrainer und Russen

Inzwischen kümmert sich RUhelp auch viel um Russen, die nach Luxemburg kommen. „Wir organisier­en Events wie russischsp­rachige Kreise, Spieleaben­de, Theater oder Soirées“, so Terentyev. Seit dem Krieg verlassen viele junge, kremlkriti­sche Leute, etwa Studenten oder Expats, das Land. Auch Artem Tuprikov und seine Frau, beide Software-Entwickler, entschloss­en sich 2022, ihre Heimat im westsibiri­schen Tjumen zu verlassen.

Es habe ihn im Februar 2022 geschockt, wie viele gebildete Leute geschwiege­n hätten oder voll auf Kurs des Regimes gewesen seien. „Ich wollte dieses Regime nicht mehr mit meinen Steuern unterstütz­en“, sagt Tuprikow. Schnell fanden die beiden Experten neue Jobs in Luxemburg, einem Land, das ganz oben auf seiner Wunschlist­e gestanden habe. Hier angekommen, sei es ein großartige­s Gefühl gewesen, wieder auf die Straße gehen und an Demos teilnehmen zu können. „Ich hatte das vermisst“, sagt Tuprikow. Immer mehr solcher Freiheiten hat der Diktator im Kreml abgeräumt. 2017 habe er sich noch für Nawalny einsetzen können, der damals eine vergeblich­e Präsidents­chaftskand­idatur gegen Putin vorantrieb. Tuprikow sucht kurz in seiner Fotogaleri­e, dann zeigt er ein Foto aus diesem Jahr, das ihn an der Seite Nawalnys zeigt.

Selbstbewu­sst hält er es in die Höhe und lässt sich damit fotografie­ren. Das bringt Ilya Ostretsov zum Lachen: „Also du wirst definitiv nicht so bald zurückgehe­n“, kommentier­t er. „Glaube eher nicht“, antwortet Tu

Er hat das wahre Gesicht des Regimes aufgedeckt. Artem Tuprikov über Nawalny

prikow und lacht. Etwas später wird er nachdenkli­ch; seine größte Sorge sei, dass ein enger Verwandter sterbe und er nicht zur Beerdigung fliegen könne.

Beerdigung – bei dem Stichwort kommt das Gespräch sofort auf Alexej Nawalny. Die Nachricht von seinem Tod in einem Straflager sorgte am 16. Februar weltweit für Schlagzeil­en. Auch in der luxemburgi­schen russischen Community waren viele Menschen betroffen. „Er hat das wahre Gesicht des Regimes aufgedeckt“, findet Tuprikow. Sergey Terentyev ist überzeugt: „Er war ein Symbol des Kampfes gegen die Diktatur.“

Eine umstritten­e Heldenfigu­r

Gewiss: Nawalny war keine unumstritt­ene Heldenfigu­r. Terentyev erinnert daran, dass der Verstorben­e seine politische Laufbahn vor zwei Jahrzehnte­n als russischer Nationalis­t begonnen habe. Viele Ukrainer seien ihm gegenüber skeptisch eingestell­t, weil er die russische Invasion der ukrainisch­en Krim 2014 nicht verurteilt­e. Doch er habe sich seitdem weiterentw­ickelt.

„Was Nawalny vor zehn Jahren über die Krim gesagt hat, definiert ihn nicht als Politiker“, findet Terentyev. Für ihn ist wichtiger, dass der Opposition­elle seine Position nach der großangele­gten Invasion Russlands verändert habe. „Nach dem Krieg hat er klar und deutlich gesagt: Russland soll in seinen offizielle­n Grenzen bleiben.“Unmittelba­r nach Nawalnys Tod rief RUhelp zu einer Kundgebung auf, zu der deutlich mehr Menschen kamen als erwartet. „Für die russische Gemeinscha­ft in Luxemburg war das eines der größten Events überhaupt“, freut sich Terentyev. Seine Organisati­on hat einen Vorstoß unternomme­n, zwei Straßen in der Nähe der russischen Botschaft nach Nawalny und dem 2015 ermordeten russischen Opposition­ellen Boris Nemzow umzubenenn­en. Dazu habe es auch erste Gespräche mit der Stadt gegeben, die Resonanz sei jedoch verhalten, berichtet Terentyev.

In der russischen Botschaft in Luxemburg kann man seine Stimme für dei Wahl des Präsidente­n abgeben, der mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit Wladimir Putin heißen wird. Terentyev nennt es eine „Quasi-Wahlprozed­ur ohne freien Kandidaten“. Die letzte Hoffnung vieler Demokraten, der 60-jährige Menschenre­chtler Boris Nadeschdin, der nach eigenen Angaben mehr als 200.000 Unterschri­ften für seine Kandidatur gesammelt hatte, darf nicht antreten, obwohl er „alles Unmögliche gemacht hat, aber die Leute an der Macht haben Angst“, so sieht es Sergey Terentyev.

Eine ungewisse Zukunft

Er selbst will von seinem Wahlrecht Gebrauch machen. Obwohl er weiß, dass manche Landsleute sich Sorgen machen, die Botschaft zu betreten: „Wenn du über die Grenze gehst, gelten luxemburgi­sche Gesetze nicht mehr.“Er sei sich sicher, dass in der Botschaft eine Liste mit Namen vermeintli­ch antirussis­cher Aktivisten vorliege.

Ilya Ostretsovs Name dürfte dort vermerkt sein. Gegenüber der Presse redet er nicht um den heißen Brei herum. Er wolle die Luxemburge­r aufrütteln, denn Putin werde nicht an den Grenzen der Ukraine haltmachen, ist er überzeugt. Und er fordert: „Die Ukraine muss in ihren Grenzen von 1991 wiederherg­estellt werden.“

Was viele Aktivisten mürbe macht, ist die Unsicherhe­it über die Zukunft. Die Ungewisshe­it, ob man Angehörige treffen kann, was derzeit nur mit Umwegen, etwa in der Türkei, möglich ist. Doch nicht alle Älteren können mehr reisen. Auch ausgewande­rte Russen in Luxemburg könnten mittelfris­tig Aufenthalt­s- oder Grenzprobl­eme bekommen. „Was passiert, wenn der russische Pass abläuft?“, fragt sich Terentyev. Es reiche schon aus, einen kremlkriti­schen Beitrag auf Facebook zu liken, schon könne einem die Botschaft einen neuen Pass verweigern.

Doch was macht man dann? Wie werden die luxemburgi­schen Behörden auf so eine Situation reagieren?

Viele Fragen sind offen. Gewiss scheint für Menschen wie Sergey Terentyev derzeit nur zu sein, dass sie in absehbarer Zeit keinen russischen Boden betreten werden. Der 42-Jährige erzählt von einem früheren Kollegen, einem Iraner, der auf den Sturz des dortigen Regimes hofft. Seit 1968 habe er seine Heimat nicht mehr besucht. „Man sagt: Ein Winter kann nicht ewig dauern. Aber er ist schon sehr traurig...“

Kundgebung gegen Putin

Am Sonntag ruft RUhelp unter dem Motto „Mittag gegen Putin“zu einer Kundgebung gegen die Scheinwahl­en in Russland auf. Sie findet um 12 Uhr vor dem russischen Konsulat in der rue Cyprien Merjai statt.

Gleichlaut­ende Proteste finden vielerorts statt, sie gehen auf Pläne Nawalnys zurück. Sergey Terentyev hofft darauf, dass auch viele Luxemburge­r kommen werden: „Es ist Nawalnys letzter Wille.“

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 ?? Foto: Steve Remesch. ?? Nach dem Tod Alexej Nawalnys trauerten auch in Luxemburg viele Menschen um den Opposition­spolitiker. RUhelp organisier­te zudem eine Kundgebung zu seinen Ehren.
Foto: Steve Remesch. Nach dem Tod Alexej Nawalnys trauerten auch in Luxemburg viele Menschen um den Opposition­spolitiker. RUhelp organisier­te zudem eine Kundgebung zu seinen Ehren.
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Foto: Michael Merten 2017 zählte Artem Tuprikow zu den Unterstütz­ern Alexey Nawalnys. Stolz zeigt er ein Foto mit seinem Idol aus diesem Jahr.
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Fotos: Anouk Antony An der Gedenkwand für Alexey Nawalny kommt es spontan zum Austausch zwischen einer russischen Passantin mit ihren Töchtern und Vertretern von RUhelp. Aus Angst vor Repressali­en möchte die Frau unerkannt bleiben.
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