Wir müssen erfüllen, was wir als Anspruch geerbt haben
Es führt kein Weg daran vorbei, den Nationalismus zu überwinden, um das europäische Projekt in die Zukunft zu führen
Ich lade Sie ein zu einer Zeitreise. Warum? Im Juni 2024 wird wieder das Europäische Parlament gewählt, in der Folge wird entschieden, wer Präsident oder Präsidentin der Europäischen Kommission sein wird, neue Kommissare werden von den Mitgliedstaaten entsandt oder alte bestätigt. Alle diese Entscheidungen werden die Europapolitik für fünf Jahre prägen, befördern oder blockieren, wir werden Krisen meistern können oder erleiden müssen. Es ist höchste Zeit, über europäische Demokratie zu diskutieren, über ihre evidenten Defizite, ihre Widersprüche, über die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung. Sie fragen warum?
Europa ist ja demokratisch, das Land, in dem Sie leben, ist eine Demokratie. Alle Mitgliedstaaten der Union sind Demokratien. Was sollte daran geändert werden? Demokratie ist also das, was Sie gewohnt sind, was Sie kennen? Man geht von Zeit zu Zeit wählen, und danach sind entweder die bekannten Eliten in politischer Verantwortung, oder Eliten, die sich als Anti-Eliten darstellen, also entweder Populisten, die nicht sehr populär sind, oder die Populisten, die von den unpopulären Populisten als Populisten bezeichnet werden.
Zeitreise in die Vergangenheit
Dies gewohnt zu sein und ab und zu ungestraft wütend werden zu dürfen, ist für Sie Demokratie? Und weil es Demokratie ist, darf es nicht infrage gestellt werden? Im Ernst? Lautet der Paragraf 1 der Verfassung „Alle Macht geht von der Gewohnheit aus“? Das Prinzip der Demokratie ist unabänderlich? Wenn wir also vom Prinzip reden, dann gehen wir doch zum Anfang zurück, zur Wurzel der Idee, zur „Wiege der Demokratie“, zum Fundament der europäischen Werte. Also: Zeitreise zurück ins antike Griechenland! Wir wollen mit den klugen Menschen reden, die die Idee der Demokratie in die europäische Welt gesetzt und erstmals praktisch verwirklicht haben.
Dazu nehme ich Sie jetzt mit, und da ich ein humanistisches Gymnasium absolviert und also Altgriechisch gelernt habe, sollte es kein Kommunikationsproblem geben. Wir steigen aus unserer Zeitreisekapsel aus und treffen auf Platon. Da haben wir die Zielzeit nicht sehr genau eingestellt, denn Platon erweist sich als sehr skeptisch, was Demokratie betrifft. Dass sein Lehrer Sokrates durch ein demokratisches, durch Mehrheitsentscheid gefälltes Urteil zu Selbstmord gezwungen wurde, war für ihn der Beweis, dass ein Volksentscheid höherer Vernunft widerspreche.
Das würde jetzt zwar auch, übertragen auf unsere Zeit, eine interessante Diskussion ermöglichen, war aber nicht die Fragestellung, wegen der wir uns auf den Weg gemacht haben. Wir stellen die Zeituhr genauer ein und fliegen präzis zur beginnenden Hochblüte der attischen Demokratie, um Kleisthenes zu treffen, der am Ende des sechsten Jahrhunderts die Tyrannen aus Athen vertrieben und auf Basis der Solonischen Verfassung die Grundlagen für die Demokratie geschaffen hatte, die wir meinen, wenn von der „Wiege der europäischen Demokratie“die Rede ist. Und da treffen wir ihn schon, Kleisthenes, im Disput auf der Agora, ein freier Mann unter freien Bürgern.
Ich grüße dich, oh Kleisthenes und nehme die Einladung an, ihm ins Gymnasion zu folgen, wo schöne nackte Männer Fragen des Gemeinwohls diskutieren, um ihn schließlich zu fragen: Verehrter Kleisthenes, können Sie sich eine Demokratie ohne Sklaven vorstellen, aber mit Frauen?
Er lacht schallend. Nein, sagt er, ich bin für meine politische Fantasie berühmt, und sie hat unsere Gesellschaft in die Zukunft geführt. Aber Demokratie ohne unsere Sklaven – er lacht, wie soll das möglich sein? Und mit Frauen, er japst vor Heiterkeit, Sie meinen, dass sie mitbestimmen können? Er verschluckt sich vor Lachen. Nein, sagt er, das kann ich mir nicht vorstellen, das wird es nie geben! Das ist unmöglich!
Antwort in der Geschichte Europas
Und jetzt frage ich, mit Ihnen zurückgekehrt von der Wiege der Demokratie in die Gegenwart, ganz unschuldig: Ist das, was am Beginn der Demokratie unvorstellbar war, heute nicht selbstverständlich? Und sollten wir nicht heute bereits versuchen, uns vorzustellen, was morgen vernünftigerweise selbstverständlich sein wird? Es ist banal, aber gerne vergessen: Demokratie ist ein Prozess. Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir in die Zukunft blicken: Was kann es also sein, das Unvorstellbare, das morgen selbstverständlich sein wird oder sein sollte?
Die Antwort findet sich auch in der Geschichte Europas. Machen wir noch eine Zeitreise, diesmal eine kürzere, zurück in die Nachkriegszeit. Wir wollen mit den Männern reden, die das europäische Einigungsprojekt, das zur heutigen EU geführt hat, auf den Weg gebracht haben. Wir landen in einer Trümmerlandschaft, in der Menschen mit wachsender Euphorie ein neues Leben, friedlich, mit wachsendem Wohlstand aufbauen. Wir treffen auf eine Generation, die in nur einer Lebenszeit folgende Kriege oder deren Konsequenzen erlebt hat: den deutsch-französischen Krieg, die Balkankriege, den Ersten Weltkrieg, den Einmarsch Polens in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, daraufhin den polnisch-sowjetischen Krieg, Bürgerkriege und den Zweiten Weltkrieg. Die Gründerväter des europäischen Einigungsprojekts, Männer wie Jean Monnet, haben eine Lehre daraus gezogen, den Aggressor klar benannt und eine Vision entwickelt.
Monnet ist ein höflicher, kluger Mann. Er schenkt uns Cognac ein, wir diskutieren und verstehen: der Aggressor, der die brutalsten Menschheitsverbrechen begangen hat, war der Nationalismus. Ein befriedetes und nachhaltig friedliches Europa muss also den Nationalismus überwinden, die Nationen so miteinander verflechten, dass keine mehr etwas gegen andere unternehmen kann, ohne sich selbst zu schaden. Wir müssen daher Gemeinschaftsinstitutionen entwickeln und Gemeinschaftsrecht. Und natürlich eine gemeinsame Demokratie.
Nachnationale Demokratie
Zurück in der Gegenwart blicken wir uns um und fragen uns: Wo ist sie, die europäische Demokratie? Ist ein Kontinent mit einem gemeinsamen Markt, einer gemeinsamen Währung, einem gemeinsamen Raum ohne Binnengrenzen, mit gemeinsamen Institutionen und mit dem Anspruch einer nachnationalen Vereinigung wirklich demokratisch, wenn es in 27 Mitgliedstaaten siebenundzwanzig verschiedene Systeme der Demokratie gibt?
Es gibt in Europa demokratische Republiken und konstitutionelle Monarchien, zentralistische und föderale Demokratien, Systeme mit Zweitstimmen oder mit nur einer Stimme oder mit der Möglichkeit einer Vorzugsstimme, mit plebiszitären demokratischen Elementen oder mit strikt repräsentativer Demokratie, mit Mehrheitswahlrecht oder Proporzwahl, mit kontrollierendem Parlament oder nur formalem Parlamentarismus, der Regierungsbeschlüsse nur noch bestätigt, und alleine die jeweils na
Wenn wir die Idee ernst nehmen und Europa als politische Union entwickeln wollen, dann kann die EU nicht ein Club von Nationalstaaten bleiben.
len? Alle großen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, sind längst transnational, kein Nationalstaat kann sie in Verteidigung seiner Souveränität alleine lösen. Nationalisten können es versprechen, aber sie können nicht liefern. Was sie können, ist Wut produzieren.
Europa hat die Wahl
Wollen wir im Juni 2024 Nationalisten in die europäische Volksvertretung wählen, also Blockade europäischer Gemeinschaftspolitik, Aggression und Krisen bis zur Misere? Oder wollen wir zumindest beginnen, darüber zu diskutieren, was das sein kann: eine nachnationale Demokratie? Eine Demokratie, die in Europa endlich ein Versprechen der französischen Revolution einlöst, nämlich den Gleichheitsgrundsatz: dass alle Europäer im gleichen Rechtszustand leben und gleiche politische Partizipationsmöglichkeiten haben, egal wie groß und politisch einflussreich das Land ist, dessen Pass sie haben.
Noch eine Zeitreise! Kommen Sie mit in die Zukunft! Festhalten! Es dauert nicht lange! Wir steigen aus unserer Zeitkapsel im Jahr 2040 aus und sehen – Misere und Elend. Krisen. Klimakatastrophen. Die Nationalisten haben das gemeinsame Europa in die Luft gesprengt, alle Gemeinschaftspolitik blockiert, selbst keine Lösungen anbieten können, nur den Hass auf Sündenböcke und … Nein! Wir können zwar die Vergangenheit nicht ändern, aber noch können wir die Zukunft gestalten.
Wir müssen erfüllen, was wir als Anspruch geerbt haben, nämlich die Überwindung des Nationalismus, und wir brauchen zur Gestaltung der Zukunft, was wir jetzt endlich diskutieren müssen, nämlich eine nachnationale europäische Demokratie. Wie soll sie aussehen? Das ist die Frage, die ich stelle. Ging es um die Souveränität der Menschen oder um die Souveränität von Nationen? Ging es wirklich nur darum: Freiheit des Markts, Gleichheit der Ware Arbeitskraft, und hoffentlich Brüderlichkeit in der Preisgestaltung?
Dieser Text erschien zuerst in der französischen Tageszeitung „Le Monde“. Die deutsche Fassung wurde uns vom Autor zur Verfügung gestellt.