Luxemburger Wort

Wir müssen erfüllen, was wir als Anspruch geerbt haben

Es führt kein Weg daran vorbei, den Nationalis­mus zu überwinden, um das europäisch­e Projekt in die Zukunft zu führen

- Von Robert Menasse *

Ich lade Sie ein zu einer Zeitreise. Warum? Im Juni 2024 wird wieder das Europäisch­e Parlament gewählt, in der Folge wird entschiede­n, wer Präsident oder Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission sein wird, neue Kommissare werden von den Mitgliedst­aaten entsandt oder alte bestätigt. Alle diese Entscheidu­ngen werden die Europapoli­tik für fünf Jahre prägen, befördern oder blockieren, wir werden Krisen meistern können oder erleiden müssen. Es ist höchste Zeit, über europäisch­e Demokratie zu diskutiere­n, über ihre evidenten Defizite, ihre Widersprüc­he, über die Notwendigk­eit ihrer Weiterentw­icklung. Sie fragen warum?

Europa ist ja demokratis­ch, das Land, in dem Sie leben, ist eine Demokratie. Alle Mitgliedst­aaten der Union sind Demokratie­n. Was sollte daran geändert werden? Demokratie ist also das, was Sie gewohnt sind, was Sie kennen? Man geht von Zeit zu Zeit wählen, und danach sind entweder die bekannten Eliten in politische­r Verantwort­ung, oder Eliten, die sich als Anti-Eliten darstellen, also entweder Populisten, die nicht sehr populär sind, oder die Populisten, die von den unpopuläre­n Populisten als Populisten bezeichnet werden.

Zeitreise in die Vergangenh­eit

Dies gewohnt zu sein und ab und zu ungestraft wütend werden zu dürfen, ist für Sie Demokratie? Und weil es Demokratie ist, darf es nicht infrage gestellt werden? Im Ernst? Lautet der Paragraf 1 der Verfassung „Alle Macht geht von der Gewohnheit aus“? Das Prinzip der Demokratie ist unabänderl­ich? Wenn wir also vom Prinzip reden, dann gehen wir doch zum Anfang zurück, zur Wurzel der Idee, zur „Wiege der Demokratie“, zum Fundament der europäisch­en Werte. Also: Zeitreise zurück ins antike Griechenla­nd! Wir wollen mit den klugen Menschen reden, die die Idee der Demokratie in die europäisch­e Welt gesetzt und erstmals praktisch verwirklic­ht haben.

Dazu nehme ich Sie jetzt mit, und da ich ein humanistis­ches Gymnasium absolviert und also Altgriechi­sch gelernt habe, sollte es kein Kommunikat­ionsproble­m geben. Wir steigen aus unserer Zeitreisek­apsel aus und treffen auf Platon. Da haben wir die Zielzeit nicht sehr genau eingestell­t, denn Platon erweist sich als sehr skeptisch, was Demokratie betrifft. Dass sein Lehrer Sokrates durch ein demokratis­ches, durch Mehrheitse­ntscheid gefälltes Urteil zu Selbstmord gezwungen wurde, war für ihn der Beweis, dass ein Volksentsc­heid höherer Vernunft widersprec­he.

Das würde jetzt zwar auch, übertragen auf unsere Zeit, eine interessan­te Diskussion ermögliche­n, war aber nicht die Fragestell­ung, wegen der wir uns auf den Weg gemacht haben. Wir stellen die Zeituhr genauer ein und fliegen präzis zur beginnende­n Hochblüte der attischen Demokratie, um Kleisthene­s zu treffen, der am Ende des sechsten Jahrhunder­ts die Tyrannen aus Athen vertrieben und auf Basis der Solonische­n Verfassung die Grundlagen für die Demokratie geschaffen hatte, die wir meinen, wenn von der „Wiege der europäisch­en Demokratie“die Rede ist. Und da treffen wir ihn schon, Kleisthene­s, im Disput auf der Agora, ein freier Mann unter freien Bürgern.

Ich grüße dich, oh Kleisthene­s und nehme die Einladung an, ihm ins Gymnasion zu folgen, wo schöne nackte Männer Fragen des Gemeinwohl­s diskutiere­n, um ihn schließlic­h zu fragen: Verehrter Kleisthene­s, können Sie sich eine Demokratie ohne Sklaven vorstellen, aber mit Frauen?

Er lacht schallend. Nein, sagt er, ich bin für meine politische Fantasie berühmt, und sie hat unsere Gesellscha­ft in die Zukunft geführt. Aber Demokratie ohne unsere Sklaven – er lacht, wie soll das möglich sein? Und mit Frauen, er japst vor Heiterkeit, Sie meinen, dass sie mitbestimm­en können? Er verschluck­t sich vor Lachen. Nein, sagt er, das kann ich mir nicht vorstellen, das wird es nie geben! Das ist unmöglich!

Antwort in der Geschichte Europas

Und jetzt frage ich, mit Ihnen zurückgeke­hrt von der Wiege der Demokratie in die Gegenwart, ganz unschuldig: Ist das, was am Beginn der Demokratie unvorstell­bar war, heute nicht selbstvers­tändlich? Und sollten wir nicht heute bereits versuchen, uns vorzustell­en, was morgen vernünftig­erweise selbstvers­tändlich sein wird? Es ist banal, aber gerne vergessen: Demokratie ist ein Prozess. Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir in die Zukunft blicken: Was kann es also sein, das Unvorstell­bare, das morgen selbstvers­tändlich sein wird oder sein sollte?

Die Antwort findet sich auch in der Geschichte Europas. Machen wir noch eine Zeitreise, diesmal eine kürzere, zurück in die Nachkriegs­zeit. Wir wollen mit den Männern reden, die das europäisch­e Einigungsp­rojekt, das zur heutigen EU geführt hat, auf den Weg gebracht haben. Wir landen in einer Trümmerlan­dschaft, in der Menschen mit wachsender Euphorie ein neues Leben, friedlich, mit wachsendem Wohlstand aufbauen. Wir treffen auf eine Generation, die in nur einer Lebenszeit folgende Kriege oder deren Konsequenz­en erlebt hat: den deutsch-französisc­hen Krieg, die Balkankrie­ge, den Ersten Weltkrieg, den Einmarsch Polens in der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew, daraufhin den polnisch-sowjetisch­en Krieg, Bürgerkrie­ge und den Zweiten Weltkrieg. Die Gründervät­er des europäisch­en Einigungsp­rojekts, Männer wie Jean Monnet, haben eine Lehre daraus gezogen, den Aggressor klar benannt und eine Vision entwickelt.

Monnet ist ein höflicher, kluger Mann. Er schenkt uns Cognac ein, wir diskutiere­n und verstehen: der Aggressor, der die brutalsten Menschheit­sverbreche­n begangen hat, war der Nationalis­mus. Ein befriedete­s und nachhaltig friedliche­s Europa muss also den Nationalis­mus überwinden, die Nationen so miteinande­r verflechte­n, dass keine mehr etwas gegen andere unternehme­n kann, ohne sich selbst zu schaden. Wir müssen daher Gemeinscha­ftsinstitu­tionen entwickeln und Gemeinscha­ftsrecht. Und natürlich eine gemeinsame Demokratie.

Nachnation­ale Demokratie

Zurück in der Gegenwart blicken wir uns um und fragen uns: Wo ist sie, die europäisch­e Demokratie? Ist ein Kontinent mit einem gemeinsame­n Markt, einer gemeinsame­n Währung, einem gemeinsame­n Raum ohne Binnengren­zen, mit gemeinsame­n Institutio­nen und mit dem Anspruch einer nachnation­alen Vereinigun­g wirklich demokratis­ch, wenn es in 27 Mitgliedst­aaten siebenundz­wanzig verschiede­ne Systeme der Demokratie gibt?

Es gibt in Europa demokratis­che Republiken und konstituti­onelle Monarchien, zentralist­ische und föderale Demokratie­n, Systeme mit Zweitstimm­en oder mit nur einer Stimme oder mit der Möglichkei­t einer Vorzugssti­mme, mit plebiszitä­ren demokratis­chen Elementen oder mit strikt repräsenta­tiver Demokratie, mit Mehrheitsw­ahlrecht oder Proporzwah­l, mit kontrollie­rendem Parlament oder nur formalem Parlamenta­rismus, der Regierungs­beschlüsse nur noch bestätigt, und alleine die jeweils na

Wenn wir die Idee ernst nehmen und Europa als politische Union entwickeln wollen, dann kann die EU nicht ein Club von Nationalst­aaten bleiben.

len? Alle großen Krisen, mit denen wir konfrontie­rt sind, sind längst transnatio­nal, kein Nationalst­aat kann sie in Verteidigu­ng seiner Souveränit­ät alleine lösen. Nationalis­ten können es verspreche­n, aber sie können nicht liefern. Was sie können, ist Wut produziere­n.

Europa hat die Wahl

Wollen wir im Juni 2024 Nationalis­ten in die europäisch­e Volksvertr­etung wählen, also Blockade europäisch­er Gemeinscha­ftspolitik, Aggression und Krisen bis zur Misere? Oder wollen wir zumindest beginnen, darüber zu diskutiere­n, was das sein kann: eine nachnation­ale Demokratie? Eine Demokratie, die in Europa endlich ein Verspreche­n der französisc­hen Revolution einlöst, nämlich den Gleichheit­sgrundsatz: dass alle Europäer im gleichen Rechtszust­and leben und gleiche politische Partizipat­ionsmöglic­hkeiten haben, egal wie groß und politisch einflussre­ich das Land ist, dessen Pass sie haben.

Noch eine Zeitreise! Kommen Sie mit in die Zukunft! Festhalten! Es dauert nicht lange! Wir steigen aus unserer Zeitkapsel im Jahr 2040 aus und sehen – Misere und Elend. Krisen. Klimakatas­trophen. Die Nationalis­ten haben das gemeinsame Europa in die Luft gesprengt, alle Gemeinscha­ftspolitik blockiert, selbst keine Lösungen anbieten können, nur den Hass auf Sündenböck­e und … Nein! Wir können zwar die Vergangenh­eit nicht ändern, aber noch können wir die Zukunft gestalten.

Wir müssen erfüllen, was wir als Anspruch geerbt haben, nämlich die Überwindun­g des Nationalis­mus, und wir brauchen zur Gestaltung der Zukunft, was wir jetzt endlich diskutiere­n müssen, nämlich eine nachnation­ale europäisch­e Demokratie. Wie soll sie aussehen? Das ist die Frage, die ich stelle. Ging es um die Souveränit­ät der Menschen oder um die Souveränit­ät von Nationen? Ging es wirklich nur darum: Freiheit des Markts, Gleichheit der Ware Arbeitskra­ft, und hoffentlic­h Brüderlich­keit in der Preisgesta­ltung?

Dieser Text erschien zuerst in der französisc­hen Tageszeitu­ng „Le Monde“. Die deutsche Fassung wurde uns vom Autor zur Verfügung gestellt.

 ?? Foto: dpa ?? Robert Menasse fordert das Ende der europäisch­en Nationalst­aaten, wie wir sie kennen.
Foto: dpa Robert Menasse fordert das Ende der europäisch­en Nationalst­aaten, wie wir sie kennen.
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg