Mutprobe im Wahllokal
Gestern endeten die Präsidentschaftswahlen in Russland. Tausende oppositionelle Wähler wagten eine riskante Protestaktion
Zwölf Uhr mittags, Showdown in der Schule Nr. 1566 im Moskauer Außenbezirk Marino. Ein Showdown der besonderen Art. Drinnen warten die Mitglieder der Wahlkommissionen Nr. 1489 und 1490, fast alle Lehrerinnen über 40. Und ein halbes Dutzend Journalisten, skeptisch beäugt von einem winzigen Kaukasier im schwarzen Kampfanzug, dem Wachmann der Schule. Draußen, jenseits des Metalldetektorrahmens der Polizisten, aber drängt sich eine Menschentraube… Ein gutes Dutzend Menschen, die hier und jetzt einiges riskieren. Und nicht alle kommen pünktlich.
Das doppelte Wahllokal in Marino hat seine eigene Berühmtheit. Früher gab hier Alexei Nawalny seine Stimme ab. Aber der Oppositionsführer ist tot, liegt auf dem wenige hundert Meter entfernten Borisower Friedhof beerdigt. Das offizielle Russland hat jetzt andere Idole. Die Schule heißt „Schule Nr. 1566 des Gedenkens an die Helden der Schlacht von Stalingrad.“Und heute wird hier wie in 97.000 anderen russischen Wahllokalen der „nationale Führer“Wladimir Putin das fünfte Mal zum russischen Präsidenten gewählt.
Putins Sieg ist unvermeidlich
Putins Sieg galt gestern als unvermeidlich, weniger als 80 Prozent Ja-Stimmen wären eine Überraschung. Die drei Gegenkandidaten, linientreue Duma-Abgeordnete, wetteiferten im Wahlkampf mit Lob für den Staatschef. Selbst gemäßigte Oppositionelle, wie der für Frieden mit der Ukraine eintretende Boris Nadeschdin, waren erst gar nicht zugelassen worden.
Die Opposition, deren Führer zum Großteil im Exil sitzen, aber rief die Russen dazu auf, um Punkt 12 Uhr zur Wahl zu gehen, um mit Gedränge und Warteschlangen ihren Widerstand zu demonstrieren. Und mit Worten. „Ich bin hier, weil ich Putins Herrschaft beenden will“, sagt Sergej, 41. „Ich habe für Dawankow gestimmt“. Der Fabrikdirektor trägt einen gelben Kapuzenpulli und Gelassenheit im Gesicht.
Wladislaw Dawankow gilt als der liberalste der Putin-Spoiler. Aber viel Vertrauen hat auch in Marino niemand in ihn. „Drei Kreuze habe ich gemacht“, sagt der Supermarktmanager Maxim. Das heißt noch ein ungültiger Stimmzettel. Sergej sagt, er habe außerdem „Putin ist ein Mörder“auf seinen Wahlschein geschrieben. Ein verbaler Frevel – bisher sind schon mindestens fünf Wähler von wachsamen Sicherheitsbeamten wegen solcher Eintragungen auf ihren Stimmzetteln festgenommen worden.
„Mir ist das Schicksal meines Landes nicht gleichgültig“
Auch die Zwölf-Uhr-Mittags-Wähler wissen, was sie riskieren. „Ich habe ausgeschlafen und bin dann wählen gegangen“, erklärt der Student Alexei (20) seine Anwesenheit im Wahllokal. Er hat für Dawankow gestimmt und grinst neutral. Ob er an der Aktion teilnehme. „Ich nehme an nichts teil. Aber mir ist das Schicksal meines Landes nicht gleichgültig.“
Die Leute im Wahllokal wissen, wie teuer sie diese Mutprobe zu stehen kommen kann. Vor der Schule der Stalingrad-Helden steht ein langer Jüngling mit modischer Stufenfrisur. Die Journalisten hier kennen ihn, ein verdeckter Ermittler des Extremismus-Zentrums der Polizei, der per Handy mitfilmt. Und alle Leute, die ihre Namen in den Minuten nach 12 Uhr in die Wahllisten eingetragen haben, riskieren, von dort auf ganz andere Listen der Sicherheitsorgane zu geraten.
Schon vorher wurde versucht, die 12Uhr-Mittags-Wähler einzuschüchtern. Das Portal Agenstwo berichtete von anonymen Warnungen über die Messenger Signal und Telegram. Sie richteten sich an Leute, die sich auf Plattformen der von Nawalnyj gegründeten Antikorruptionsstiftung FBK registriert hatten. Man beschuldigte sie, „die Ideen einer extremistischen Organisation“zu unterstützen. Und forderte sie auf, „ruhig, ohne Provokationen und Warteschlangen“abzustimmen.
Gegen 15.30 Uhr MEZ zählte das Rechtsschutzportal OWD-Info am Sonntag mindestens 75 Festnahmen. In Kasan wurden mehrere Wähler schlicht deshalb abgeführt, weil sie um 12 Uhr im Wahllokal aufgetaucht waren. Aber auch Wahlbeobachter, die wegen des stapelweisen Einwurfs von Stimmzetteln Alarm geschlagen hatten, landeten auf der Polizeiwache.
Und vielerorts wurden unabhängige Beobachter aus den Wahllokalen hinausgeworfen. „Es wurde praktisch vollständig in der Abwesenheit unabhängiger Kontrolleure abgestimmt“, schreibt die Wahlrechtsgruppe Golos. Laut dem Online-Beobachter Alexander Issawnin konnten mehrere seiner Kollegen, die die Zentrale Wahlkommission eingeladen hatte, ihr elektronisches Zählsystem zu kontrollieren, dort nichts ausrichten: „Man hatte ihnen ein Notebook ausgehändigt, das viel zu langsam rechnete.“
Die Grenzregionen Belgorod und Kursk lagen auch gestern unter starkem ukrainischen Beschuss, in Belgorod kamen wieder zwei Menschen ums Leben. Aber im Gegensatz zu Einkaufszentren und Supermärkten arbeiteten die Wahllokale weiter, bei Alarm zogen sich die Wahlkommissionen und ihr Publikum in Schulkeller zurück.
In einem Schutzraum an der Tschapajew-Straße beklagten sich am Samstag mehrere Belgoroder bei einer russischen Reporterin, sie müssten ihrem Chef Belege schicken, dass sie am Vormittag wirklich gewählt hätten. Aber wegen des Beschusses würden sie sich damit verspäten.
Gegen 15.30 Uhr MEZ meldeten die Behörden gestern eine Rekordbeteiligung von 70,74 Prozent, online sogar 94 Prozent. Das bedeutet, dass der Kreml sein erstes Wahlziel, eine Beteiligung von über 70 Prozent, schon erreicht hat. Oppositionelle Wahlbeobachter redeten von massivem Betrug und identischen Beteiligungsraten in zahlreichen Wahllokalen.
Dagegen waren die ersten Endergebnisse aus drei Wahllokalen im fernöstlichen Chabarowsk eher mager: Laut dem Portal Meduza gab es dort zwischen 63 und 74,6 Prozent für Wladimir Putin. Die Region gilt als politisch unzuverlässig.
Sergej, der Fabrikchef, aber hofft, dass der Showdown noch Wirkung zeigen wird. „Die Leute sehen doch, dass wir viele sind.“Aus anderen Moskauer Stadtteilen und vor allem aus Petersburg gab es zahlreiche Videos und Fotos von Warteschlangen vor den Wahllokalen, manche über hundert Meter lang. Achtungserfolge.
Vor dem Detektorrahmen der Stalingrad-Helden-Schule aber stehen um 12.21 Uhr nur noch zwei Leute. Sergej drinnen bittet darum, ihn nicht zu fotografieren. „Ich möchte gern als Direktor weiterarbeiten“, sein Lächeln gerät etwas schräg. In Russland wählt die Angst schon lange mit.