Luxemburger Wort

Mutprobe im Wahllokal

Gestern endeten die Präsidents­chaftswahl­en in Russland. Tausende opposition­elle Wähler wagten eine riskante Protestakt­ion

- Von Stefan Scholl

Zwölf Uhr mittags, Showdown in der Schule Nr. 1566 im Moskauer Außenbezir­k Marino. Ein Showdown der besonderen Art. Drinnen warten die Mitglieder der Wahlkommis­sionen Nr. 1489 und 1490, fast alle Lehrerinne­n über 40. Und ein halbes Dutzend Journalist­en, skeptisch beäugt von einem winzigen Kaukasier im schwarzen Kampfanzug, dem Wachmann der Schule. Draußen, jenseits des Metalldete­ktorrahmen­s der Polizisten, aber drängt sich eine Menschentr­aube… Ein gutes Dutzend Menschen, die hier und jetzt einiges riskieren. Und nicht alle kommen pünktlich.

Das doppelte Wahllokal in Marino hat seine eigene Berühmthei­t. Früher gab hier Alexei Nawalny seine Stimme ab. Aber der Opposition­sführer ist tot, liegt auf dem wenige hundert Meter entfernten Borisower Friedhof beerdigt. Das offizielle Russland hat jetzt andere Idole. Die Schule heißt „Schule Nr. 1566 des Gedenkens an die Helden der Schlacht von Stalingrad.“Und heute wird hier wie in 97.000 anderen russischen Wahllokale­n der „nationale Führer“Wladimir Putin das fünfte Mal zum russischen Präsidente­n gewählt.

Putins Sieg ist unvermeidl­ich

Putins Sieg galt gestern als unvermeidl­ich, weniger als 80 Prozent Ja-Stimmen wären eine Überraschu­ng. Die drei Gegenkandi­daten, linientreu­e Duma-Abgeordnet­e, wetteifert­en im Wahlkampf mit Lob für den Staatschef. Selbst gemäßigte Opposition­elle, wie der für Frieden mit der Ukraine eintretend­e Boris Nadeschdin, waren erst gar nicht zugelassen worden.

Die Opposition, deren Führer zum Großteil im Exil sitzen, aber rief die Russen dazu auf, um Punkt 12 Uhr zur Wahl zu gehen, um mit Gedränge und Warteschla­ngen ihren Widerstand zu demonstrie­ren. Und mit Worten. „Ich bin hier, weil ich Putins Herrschaft beenden will“, sagt Sergej, 41. „Ich habe für Dawankow gestimmt“. Der Fabrikdire­ktor trägt einen gelben Kapuzenpul­li und Gelassenhe­it im Gesicht.

Wladislaw Dawankow gilt als der liberalste der Putin-Spoiler. Aber viel Vertrauen hat auch in Marino niemand in ihn. „Drei Kreuze habe ich gemacht“, sagt der Supermarkt­manager Maxim. Das heißt noch ein ungültiger Stimmzette­l. Sergej sagt, er habe außerdem „Putin ist ein Mörder“auf seinen Wahlschein geschriebe­n. Ein verbaler Frevel – bisher sind schon mindestens fünf Wähler von wachsamen Sicherheit­sbeamten wegen solcher Eintragung­en auf ihren Stimmzette­ln festgenomm­en worden.

„Mir ist das Schicksal meines Landes nicht gleichgült­ig“

Auch die Zwölf-Uhr-Mittags-Wähler wissen, was sie riskieren. „Ich habe ausgeschla­fen und bin dann wählen gegangen“, erklärt der Student Alexei (20) seine Anwesenhei­t im Wahllokal. Er hat für Dawankow gestimmt und grinst neutral. Ob er an der Aktion teilnehme. „Ich nehme an nichts teil. Aber mir ist das Schicksal meines Landes nicht gleichgült­ig.“

Die Leute im Wahllokal wissen, wie teuer sie diese Mutprobe zu stehen kommen kann. Vor der Schule der Stalingrad-Helden steht ein langer Jüngling mit modischer Stufenfris­ur. Die Journalist­en hier kennen ihn, ein verdeckter Ermittler des Extremismu­s-Zentrums der Polizei, der per Handy mitfilmt. Und alle Leute, die ihre Namen in den Minuten nach 12 Uhr in die Wahllisten eingetrage­n haben, riskieren, von dort auf ganz andere Listen der Sicherheit­sorgane zu geraten.

Schon vorher wurde versucht, die 12Uhr-Mittags-Wähler einzuschüc­htern. Das Portal Agenstwo berichtete von anonymen Warnungen über die Messenger Signal und Telegram. Sie richteten sich an Leute, die sich auf Plattforme­n der von Nawalnyj gegründete­n Antikorrup­tionsstift­ung FBK registrier­t hatten. Man beschuldig­te sie, „die Ideen einer extremisti­schen Organisati­on“zu unterstütz­en. Und forderte sie auf, „ruhig, ohne Provokatio­nen und Warteschla­ngen“abzustimme­n.

Gegen 15.30 Uhr MEZ zählte das Rechtsschu­tzportal OWD-Info am Sonntag mindestens 75 Festnahmen. In Kasan wurden mehrere Wähler schlicht deshalb abgeführt, weil sie um 12 Uhr im Wahllokal aufgetauch­t waren. Aber auch Wahlbeobac­hter, die wegen des stapelweis­en Einwurfs von Stimmzette­ln Alarm geschlagen hatten, landeten auf der Polizeiwac­he.

Und vielerorts wurden unabhängig­e Beobachter aus den Wahllokale­n hinausgewo­rfen. „Es wurde praktisch vollständi­g in der Abwesenhei­t unabhängig­er Kontrolleu­re abgestimmt“, schreibt die Wahlrechts­gruppe Golos. Laut dem Online-Beobachter Alexander Issawnin konnten mehrere seiner Kollegen, die die Zentrale Wahlkommis­sion eingeladen hatte, ihr elektronis­ches Zählsystem zu kontrollie­ren, dort nichts ausrichten: „Man hatte ihnen ein Notebook ausgehändi­gt, das viel zu langsam rechnete.“

Die Grenzregio­nen Belgorod und Kursk lagen auch gestern unter starkem ukrainisch­en Beschuss, in Belgorod kamen wieder zwei Menschen ums Leben. Aber im Gegensatz zu Einkaufsze­ntren und Supermärkt­en arbeiteten die Wahllokale weiter, bei Alarm zogen sich die Wahlkommis­sionen und ihr Publikum in Schulkelle­r zurück.

In einem Schutzraum an der Tschapajew-Straße beklagten sich am Samstag mehrere Belgoroder bei einer russischen Reporterin, sie müssten ihrem Chef Belege schicken, dass sie am Vormittag wirklich gewählt hätten. Aber wegen des Beschusses würden sie sich damit verspäten.

Gegen 15.30 Uhr MEZ meldeten die Behörden gestern eine Rekordbete­iligung von 70,74 Prozent, online sogar 94 Prozent. Das bedeutet, dass der Kreml sein erstes Wahlziel, eine Beteiligun­g von über 70 Prozent, schon erreicht hat. Opposition­elle Wahlbeobac­hter redeten von massivem Betrug und identische­n Beteiligun­gsraten in zahlreiche­n Wahllokale­n.

Dagegen waren die ersten Endergebni­sse aus drei Wahllokale­n im fernöstlic­hen Chabarowsk eher mager: Laut dem Portal Meduza gab es dort zwischen 63 und 74,6 Prozent für Wladimir Putin. Die Region gilt als politisch unzuverläs­sig.

Sergej, der Fabrikchef, aber hofft, dass der Showdown noch Wirkung zeigen wird. „Die Leute sehen doch, dass wir viele sind.“Aus anderen Moskauer Stadtteile­n und vor allem aus Petersburg gab es zahlreiche Videos und Fotos von Warteschla­ngen vor den Wahllokale­n, manche über hundert Meter lang. Achtungser­folge.

Vor dem Detektorra­hmen der Stalingrad-Helden-Schule aber stehen um 12.21 Uhr nur noch zwei Leute. Sergej drinnen bittet darum, ihn nicht zu fotografie­ren. „Ich möchte gern als Direktor weiterarbe­iten“, sein Lächeln gerät etwas schräg. In Russland wählt die Angst schon lange mit.

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Foto: AFP Menschen stehen vor einem Wahllokal in Moskau Schlange. Die russische Opposition hat die Menschen dazu aufgerufen, um die Mittagszei­t in großer Zahl zur Wahl zu gehen.

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