Was die Russen nach Putins Pseudo-Wahl erwartet
Nach seinem „überlegenen“Sieg kann man davon ausgehen, dass der russische Präsident innen- und außenpolitisch aggressiver agiert. Einfach wird das nicht
Putin machte es kurz. Die Halbinsel Krim werde ja auch als unsinkbarer Flugzeugträger bezeichnet. „Auch darum habe ich damals gesagt, dass sie in den Heimathafen zurückkehrt.“Mit dieser militärischen Metapher gratulierte Wladimir Putin den Russen gestern bei einem Festkonzert auf dem Roten Platz zum Anschluss der Krim vor zehn Jahren. Seinen Rekordsieg von 87,3 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen am Vortag erwähnte er während des Zwölf-Minuten-Auftritts nicht. Ihn hatte er schon am Vorabend vor den „Gefährten“seines Wahlkampfteams mit ähnlich kriegerischer Rhetorik gefeiert. Wer ist ein Gefährte? Im alten Russland ist das ein Krieger, einer aus dem einfachen Volk. Nicht bloß Krieger, sondern Freischärler. Jemand, der zum Schutz seines Vaterlandes aufgestanden ist.“Jetzt seien alle Russen Gefährten, eine Mannschaft.
Die 87,3 Prozent Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 77,4 Prozent scheinen Putins Parolen von der nationalen Geschlossenheit im Kampf um die Ukraine zu bestätigen. Auch wenn die Wahlrechtsgruppe Golos die Abstimmung als „Imitation einer Wahl“bezeichnete und der Politologe Temur Umarow auf Telegram konstatierte, bei postsowjetischen Wahlen hätten nur vorder- und zentralasiatische Staatschefs höhere Siege eingefahren als Putin bei seiner fünften Wiederwahl. Die Zahl 87,3 Prozent unterstreichen jedenfalls die feste Entschlossenheit seines Apparats, Putins Herrschaft für die nächsten sechs Jahre zu zementieren.
„Das schwarze Loch wird immer schwärzer“, sagt der Online-Wahlbeobachter Alexander Issawnin über die völlig unkontrollierbare Auszählung der immer weiter verbreiteten digitalen Stimmabgabe. Mit der App „Dobrinja“kontrollierten laut Golos Moskauer Behörden- und Firmenchefs das Wahlverhalten ihrer Belegschaften. Und mehrere Offline-Wähler, die Antiputin-Parolen auf ihre Stimmzettel geschrieben hatten, wurden prompt festgenommen. Die Staatsorgane demonstrieren offen, dass ihre Räson endgültig über den Gesetzen steht. Wähler, die sich am Sonntag an dem Zwölf-Uhr-Mittagsflashmob der Opposition vor der Wahllokalen beteiligten, äußerten ebenfalls die Angst, deshalb Schwierigkeiten zu bekommen.
Wahlversprechen kaum finanzierbar
„Ganz offenbar wird es Repressalien nach den Präsidentschaftswahlen geben“, prophezeit Medusa. Auch Steuererhöhungen und eine neue Teilmobilmachung werden angstvoll diskutiert. Und Wladimir Putin drohte am Wahlabend der Ostukraine schon mit einer neuen Offensive zur Schaffung „einer gewissen Sicherheitszone“.
Aber es gibt auch Experten, die zweifeln, dass der russische Bär jetzt zum großen Prankenhieb ausholt. „An den Gedenkveranstaltungen für Alexej Nawalny und an den Zwölf-Uhr-Mittagsprotesten haben zehn- oder sogar Hunderttausende Menschen teilgenommen“, sagt ein liberaler Moskauer Politologe anonym. „Wenn die Staatsmacht sie alle vorladen und einsperren will, fehlt ihr dazu ganz banal das Personal“. Im Gegensatz zu Stalins Tschekisten seien Putins Staatssicherheitler ziemlich satt, statt Großen Terror zu veranstalten, würden sie sich wie bisher da
mit zufriedengeben, besonders laute Oppositionelle einzusperren, um die Übrigen einzuschüchtern.
Putin kündigte schon vor den Wahlen Steuererhöhungen an. Laut dem Exilportal Cholod sollen damit Versprechungen und Projekte mit einem Volumen von 75 bis 170 Milliarden Euro bezahlt werden, die Putin
im Wahlkampf publik machte. Aber laut Regierungskreisen trifft die Steuerreform Russen mit einem Jahreseinkommen von umgerechnet 10.000 bis 50.000 Euro mit glimpflichen 2 zwei Prozent mehr, Besserverdienende mit fünf Prozent. Großen Steuerterror wird es also wohl auch nicht geben. Das wiederum bedeutet, dass viele der neuen Monumentalpläne Putins, vor allem im sozialen Bereich, auf der langen Bank landen.
Krieg in der Ukraine immer unpopulärer
In Russland könnte sich also nach den Wahlen weit weniger ändern, als jetzt erwartet wird. Außerhalb Russlands reduzieren sich die maßgeblichen Ereignisse seit Februar 2022 auf das Frontgeschehen in der Ukraine. „Vor allem müssen wir die Aufgaben der Kriegsspezialoperation lösen, die Verteidigungsfähigkeit und die Streitkräfte stärken“, schwor Putin seine Freischärler am Sonntagabend wieder ein. Und die Ukrainer leiden an heftigem Munitions
mangel. Aber nach den verlustreichen Kämpfen um Awdijiwka ist es militärisch fraglich, ob Putins Streitmacht zurzeit selbst die Reserven hat, um die Notlage des Gegners für einen großen Durchbruch zu nutzen.
Trotzdem hält der linientreue Politologe Wladimir Sawitschew eine neue Mobilisierung hunderttausender Russen wie im Herbst 2022 für unwahrscheinlich: „Die Aufgabe besteht ja nicht darin, mit einem siegreichen Schlag bis Lemberg durchzumarschieren.“Es gelte vielmehr, die Verluste an der Front zu minimieren.
Putin selbst redet seit zwei Jahren vom „Großen Vaterländischen Krieg“, vermeidet es aber tunlichst, den Russen Blut und Tränen anzukündigen. Der Präsident will ihre Mehrheit bei Laune halten. Zumal laut der jüngsten Umfrage des Lewada-Meinungsforschungsinstituts nur noch 39 Prozent der Bürger für eine Fortsetzung der Kampfhandlungen gegen die Ukraine sind. Auch der 87-Prozent-Putin muss mit der realen Stimmung des Volks kalkulieren.
Nach den verlustreichen Kämpfen um Awdijiwka ist es militärisch fraglich, ob Putins Streitmacht zurzeit selbst die Reserven hat, um die Notlage des Gegners für einen großen Durchbruch zu nutzen.