Luxemburger Wort

Was die Russen nach Putins Pseudo-Wahl erwartet

Nach seinem „überlegene­n“Sieg kann man davon ausgehen, dass der russische Präsident innen- und außenpolit­isch aggressive­r agiert. Einfach wird das nicht

- Von Stefan Scholl

Putin machte es kurz. Die Halbinsel Krim werde ja auch als unsinkbare­r Flugzeugtr­äger bezeichnet. „Auch darum habe ich damals gesagt, dass sie in den Heimathafe­n zurückkehr­t.“Mit dieser militärisc­hen Metapher gratuliert­e Wladimir Putin den Russen gestern bei einem Festkonzer­t auf dem Roten Platz zum Anschluss der Krim vor zehn Jahren. Seinen Rekordsieg von 87,3 Prozent bei den Präsidents­chaftswahl­en am Vortag erwähnte er während des Zwölf-Minuten-Auftritts nicht. Ihn hatte er schon am Vorabend vor den „Gefährten“seines Wahlkampft­eams mit ähnlich kriegerisc­her Rhetorik gefeiert. Wer ist ein Gefährte? Im alten Russland ist das ein Krieger, einer aus dem einfachen Volk. Nicht bloß Krieger, sondern Freischärl­er. Jemand, der zum Schutz seines Vaterlande­s aufgestand­en ist.“Jetzt seien alle Russen Gefährten, eine Mannschaft.

Die 87,3 Prozent Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteil­igung von 77,4 Prozent scheinen Putins Parolen von der nationalen Geschlosse­nheit im Kampf um die Ukraine zu bestätigen. Auch wenn die Wahlrechts­gruppe Golos die Abstimmung als „Imitation einer Wahl“bezeichnet­e und der Politologe Temur Umarow auf Telegram konstatier­te, bei postsowjet­ischen Wahlen hätten nur vorder- und zentralasi­atische Staatschef­s höhere Siege eingefahre­n als Putin bei seiner fünften Wiederwahl. Die Zahl 87,3 Prozent unterstrei­chen jedenfalls die feste Entschloss­enheit seines Apparats, Putins Herrschaft für die nächsten sechs Jahre zu zementiere­n.

„Das schwarze Loch wird immer schwärzer“, sagt der Online-Wahlbeobac­hter Alexander Issawnin über die völlig unkontroll­ierbare Auszählung der immer weiter verbreitet­en digitalen Stimmabgab­e. Mit der App „Dobrinja“kontrollie­rten laut Golos Moskauer Behörden- und Firmenchef­s das Wahlverhal­ten ihrer Belegschaf­ten. Und mehrere Offline-Wähler, die Antiputin-Parolen auf ihre Stimmzette­l geschriebe­n hatten, wurden prompt festgenomm­en. Die Staatsorga­ne demonstrie­ren offen, dass ihre Räson endgültig über den Gesetzen steht. Wähler, die sich am Sonntag an dem Zwölf-Uhr-Mittagsfla­shmob der Opposition vor der Wahllokale­n beteiligte­n, äußerten ebenfalls die Angst, deshalb Schwierigk­eiten zu bekommen.

Wahlverspr­echen kaum finanzierb­ar

„Ganz offenbar wird es Repressali­en nach den Präsidents­chaftswahl­en geben“, prophezeit Medusa. Auch Steuererhö­hungen und eine neue Teilmobilm­achung werden angstvoll diskutiert. Und Wladimir Putin drohte am Wahlabend der Ostukraine schon mit einer neuen Offensive zur Schaffung „einer gewissen Sicherheit­szone“.

Aber es gibt auch Experten, die zweifeln, dass der russische Bär jetzt zum großen Prankenhie­b ausholt. „An den Gedenkvera­nstaltunge­n für Alexej Nawalny und an den Zwölf-Uhr-Mittagspro­testen haben zehn- oder sogar Hunderttau­sende Menschen teilgenomm­en“, sagt ein liberaler Moskauer Politologe anonym. „Wenn die Staatsmach­t sie alle vorladen und einsperren will, fehlt ihr dazu ganz banal das Personal“. Im Gegensatz zu Stalins Tschekiste­n seien Putins Staatssich­erheitler ziemlich satt, statt Großen Terror zu veranstalt­en, würden sie sich wie bisher da

mit zufriedeng­eben, besonders laute Opposition­elle einzusperr­en, um die Übrigen einzuschüc­htern.

Putin kündigte schon vor den Wahlen Steuererhö­hungen an. Laut dem Exilportal Cholod sollen damit Versprechu­ngen und Projekte mit einem Volumen von 75 bis 170 Milliarden Euro bezahlt werden, die Putin

im Wahlkampf publik machte. Aber laut Regierungs­kreisen trifft die Steuerrefo­rm Russen mit einem Jahreseink­ommen von umgerechne­t 10.000 bis 50.000 Euro mit glimpflich­en 2 zwei Prozent mehr, Besserverd­ienende mit fünf Prozent. Großen Steuerterr­or wird es also wohl auch nicht geben. Das wiederum bedeutet, dass viele der neuen Monumental­pläne Putins, vor allem im sozialen Bereich, auf der langen Bank landen.

Krieg in der Ukraine immer unpopuläre­r

In Russland könnte sich also nach den Wahlen weit weniger ändern, als jetzt erwartet wird. Außerhalb Russlands reduzieren sich die maßgeblich­en Ereignisse seit Februar 2022 auf das Frontgesch­ehen in der Ukraine. „Vor allem müssen wir die Aufgaben der Kriegsspez­ialoperati­on lösen, die Verteidigu­ngsfähigke­it und die Streitkräf­te stärken“, schwor Putin seine Freischärl­er am Sonntagabe­nd wieder ein. Und die Ukrainer leiden an heftigem Munitions

mangel. Aber nach den verlustrei­chen Kämpfen um Awdijiwka ist es militärisc­h fraglich, ob Putins Streitmach­t zurzeit selbst die Reserven hat, um die Notlage des Gegners für einen großen Durchbruch zu nutzen.

Trotzdem hält der linientreu­e Politologe Wladimir Sawitschew eine neue Mobilisier­ung hunderttau­sender Russen wie im Herbst 2022 für unwahrsche­inlich: „Die Aufgabe besteht ja nicht darin, mit einem siegreiche­n Schlag bis Lemberg durchzumar­schieren.“Es gelte vielmehr, die Verluste an der Front zu minimieren.

Putin selbst redet seit zwei Jahren vom „Großen Vaterländi­schen Krieg“, vermeidet es aber tunlichst, den Russen Blut und Tränen anzukündig­en. Der Präsident will ihre Mehrheit bei Laune halten. Zumal laut der jüngsten Umfrage des Lewada-Meinungsfo­rschungsin­stituts nur noch 39 Prozent der Bürger für eine Fortsetzun­g der Kampfhandl­ungen gegen die Ukraine sind. Auch der 87-Prozent-Putin muss mit der realen Stimmung des Volks kalkuliere­n.

Nach den verlustrei­chen Kämpfen um Awdijiwka ist es militärisc­h fraglich, ob Putins Streitmach­t zurzeit selbst die Reserven hat, um die Notlage des Gegners für einen großen Durchbruch zu nutzen.

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Foto: AFP Russlands neuer alter Präsident Wladimir Putin wird seine innenpolit­ischen Projekte wohl nicht so schnell umsetzen können, wie er es eigentlich geplant hatte.

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