Luxemburger Wort

Der „Eiserne Vorhang“senkt sich wieder

Im Winter schlossen die Finnen die Grenze nach Russland. Ähnliches droht im Baltikum. Eine Katastroph­e vor allem für europäisch gesonnene Russen

- Von Stefan Scholl

Ein paar Dörfer kämen noch, dann sei Schluss, erzählt die Grenzbeamt­in, eine junge, helläugige Frau, brünette Zöpfe wippen über dem Kragen ihres blauen Schlechtwe­tteranzugs. „Die Finnen haben vor ihrem Grenzüberg­ang Betonblöck­e aufgebaut.“Aber für uns endet die Welt schon hier, vor dem russischen Wachcontai­ner am SajmaKanal bei Wyborg, 22 Kilometer südlich der finnischen Zollstatio­n Nuijamaa.

Aus dem grauen Himmel fitzelt es eisig nass, die russischen Grenzer haben unsere Ausweise einkassier­t. Ob ich eine Erlaubnis des Chefs der Sicherheit­sorgane zur journalist­ischen Tätigkeit besitze, will einer wissen. „Und Sie sind in Cherson geboren?“, fragt er Bibolet, meinen Begleiter. Wir sehen uns an, Cherson ist ukrainisch­e Frontstadt, nicht dass wir hier als mutmaßlich­e westlich-ukrainisch­e Spione festgenomm­en werden?

Über dem russisch-finnischen Grenzgebie­t hängt Misstrauen. Noch im Herbst rollten hier russische Busse und Pkw zu den finnischen 24-Stunden-Einkaufsze­ntren bei Lappeenran­taa, finnische Autofahrer kamen herüber, um billig zu tanken oder Spirituose­n zu kaufen.

24. Februar 2022 als Zäsur in der Geschichte

Auch Bibolet Bejkulow, kein Ukrainer, sondern Tscherkess­e aus Sankt Petersburg, überquerte in seinem Wrangler-Jeep oft die Grenze: Um zum Angeln an einen Waldsee bei Mikkeli zu fahren, wo ein finnischer Bekannter Wochenendh­äuser vermietete. Oder um seine Tochter Madina abzuholen, die in Jyväskylä Wirtschaft studierte. Fast hunderttau­send Russen leben, lernen und arbeiten in dem 5,6 MillionenS­eelenland, Bibolet und andere Petersburg­er nennen es liebevoll „Finka“. Viele flogen über Helsinki in den Italien-Urlaub.

Und Madina arbeitet jetzt als Marketingm­anagerin für eine finnische IT-Firma in Amsterdam.

Doch mit dem 24. Februar 2022 ist das russisch-europäisch­e Verhältnis abgestürzt. Erst wurde der Flug-, dann der Zugverkehr eingestell­t. Und seit die Finnen im Dezember ihre Grenze geschlosse­n haben, sind aus dem Großraum Petersburg Richtung Europa nur noch drei estnische sowie vier lettische Kontrollpu­nkte offen. Der eiserne Vorhang senkt sich wieder.

Nach gut eineinhalb Stunden klettern drei Männer in Tarnunifor­men aus einem Wasik-Kleinbus, wir bekommen unsere Papiere zurück. Weiterfahr­en dürften wir nicht. „Wenn sie versuchen, an einem anderen Kontrollpu­nkt durchzukom­men“, erklärt einer sachlich, „werden Sie festgenomm­en.“

Ob sie uns auf Fahrrädern durchgelas­sen hätten? Ich verkneife mir die Frage. Aber alles begann, als im November Scharen junge Männer auf Gebrauchtf­ahrrädern am Übergang Nuijami auftauchte­n. Die Flüchtling­e aus Somalia oder Syrien wollten politische­s Asyl. Die russischen Grenzer ließen sie ohne gültige Einreisepa­piere für Finnland passieren, finnische Politiker warfen Moskau deshalb vor, es organisier­e die Migranten. Laut dem damaligen Präsidente­n Sauli Niinistö rächte sich Russland so für ein neues Verteidigu­ngsabkomme­n Finnlands mit den USA.

Angesichts hunderter „Asylradler“täglich machten die Finnen alle neun Übergänge dicht. Die Region wurde zur Sackgasse. In der Markthalle der karelische­n Grenzstadt Wyborg langweilen sich dicke Verkäuferi­nnen mit Kurzhaarfr­isuren zwischen Stapeln skandinavi­scher Lebensmitt­el. „Kommt jetzt alles über Tallinn“, seufzt einer und fährt fort: „Und in Petersburg fliegen ukrainisch­e Drohnen.“Wir sind die einzigen Kunden.

Mitte Dezember öffneten die Finnen die Grenze erneut. Aber Bills Tochter Madina, die aus Amsterdam über Helsinki nach Petersburg wollte, brauchte drei Tage: Die Schranke fiel direkt vor dem Bug ihres Reisebusse­s, weil auf der anderen Seite wieder die Radfahrer aufgetauch­t waren. „Finnland hat mir den Weg zu einer Karriere in Europa geöffnet“, erzählt Madina per WhatsApp. Dafür sei sie dankbar. „Aber warum lassen die Finnen jetzt nicht mal Mütter mit kleinen Kindern passieren?“

Solche Sanktionen bringen das Volk nicht gegen Putin auf, sondern gegen Finnland. Tatjana Sallier, Russin mit deutschen Wurzeln

Trifft Einreiseve­rbot die Falschen?

„Solche Sanktionen bringen das Volk nicht gegen Putin auf, sondern gegen Finnland“, räsoniert Tatjana Sallier. Sie sitzt neben ihrem Mann Alexander Karjanen unter den Ölporträts ihrer Ahnen in ihrem Petersburg­er Wohnzimmer. Es sind finnische, französisc­he und deutsche Vorfahren, alte Petersburg­er Intelligen­z. So wie Alexander, Physiker, und Tatjana, Fremdsprac­hendozenti­n, beide 76, beide lehren noch. So wie sie lächeln, wirkt es geschwiste­rlich.

Sie erzählen von ihren Auslandsre­isen, früher drei im Jahr, von ihrer älteren Tochter Lisa, die mit ihren Zwillingse­nkelinnen im deutschen Ettenheim wohnt. Die können sie nicht mehr besuchen, seit ihr letztes Schengenvi­sum abgelaufen ist.

Ihre jüngere Tochter Anna, noch vor kurzem Prorektori­n der Europäisch­en Universitä­t in Petersburg, lebt jetzt in Finnland, mit Mann und Sohn. Ihr Mann Michail floh schon im September 2022 vor Putins Teilmobilm­achung dorthin, Anna und ihr Kind folgten. Der Programmie­rer Michail lernt in Punkaharju Koch, Anna bringt im 150 Kilometer entfernten Mikkeli jungen Somaliern und Syrern finnisch bei, hält manchmal Reden bei Demos gegen Grenzschli­eßungen.

Anna sitzt mit Mann und Kind im Auto, als sie über Messenger erzählt, die Finnen seien sehr nett zu ihnen. Gerade erst habe ihnen am Zebrastrei­fen ein Fußgänger lächelnd die Vorfahrt gelassen, ihr russisches Nummernsch­ild habe ihn nicht geschert.

Unklar, ob sie hier je die Staatsbürg­erschaft erhalten. Aber sie wollen nicht nach Russland zurück. „Roman soll in eine Schule gehen“, sagt Anna, „wo er lernt, dass es mehr als nur einen Standpunkt gibt.“

Der Westen diskutiert nicht wirklich, ob alle Russen kollektiv schuld sind an dem, was ihre Armee in der Ukraine veranstalt­et. Aber abstrafen will man möglichst viele. Und erwischt dabei hauptsächl­ich die europäisch Gesonnenen.

Für die Sallier-Karjanen gibt es noch ein Schlupfloc­h, um zusammenzu­kommen. Mit der Fähre von Helsinki ins estnische Tallinn und per Bus oder Pkw weiter nach Petersburg. Im Februar haben Anna, Michail und Roman den Weg mit dem Auto gemacht, 22 Stunden Fahrt. Früher waren es keine vier Stunden.

Im Reisebus von Petersburg nach Tallinn sprechen alle russisch, auch Iwan, 19, ein stämmiger Lockenkopf, der einen USPass besitzt und von Helsinki nach New York fliegt, wo er Wirtschaft studiert. „Die Fähre ist prima“, freut er sich, „kostet nur 30 Dollar, es gibt sogar ein Spielkasin­o.“

Sonst ist die Stimmung auf den 50 Sitzplätze­n des SKSAwto-Busses eher gedämpft. Eine magere alte Frau aus der estnischen Grenzstadt Narwa, deren kleine Stupsnase noch immer ahnen lässt, wie hübsch sie einmal war, erzählt, sie habe ihre Enkelin in Petersburg besucht. „Weiß Gott,

Mit dem 24. Februar 2022 ist das russischeu­ropäische Verhältnis abgestürzt.

wann ich das nächste Mal hinkomme, vielleicht mit dem Flugzeug über Istanbul“, scherzt sie ohne Lächeln.

Spießruten­lauf an der Grenze

Narwa ist der populärste der verblieben­en Landübergä­nge zwischen Russland und Europa, liegt auf dem kürzesten Weg zwischen Petersburg und Tallinn. Aber die Russen haben die Brücke über den Grenzfluss Anfang Februar dicht gemacht, reparieren sie – voraussich­tlich bis Ende 2025. Man muss am russischen Ufer aus dem Bus steigen, 600 Meter mit Gepäck laufen, um den grün vergittert­en Fußgängers­teig über den Fluss zu überqueren. Jen

Die kleinen baltischen Ex-Sowjetrepu­bliken haben Angst, dass Putin nach der Ukraine auch mit ihnen abrechnen will.

seits des estnischen Kontrollpu­nkts wartet ein anderer Bus.

Die Esten lassen Russen nur mit EUAufentha­ltsgenehmi­gungen durch, nicht mit Schengenvi­sa. Selbst ukrainisch­e Flüchtling­e können hier hängen bleiben, wenn ihr Kind die falsche Geburtsurk­unde besitzt.

Auf der Fußgängerb­rücke von Narwa bauten sich im November estnische Grenzschüt­zer wie Rugby-Abwehrspie­ler auf, um junge Araber zu stoppen. „Geht zurück

nach Russland, da tut euch auch keiner was.“Aber die Migranten sind weiter in der Region unterwegs, nach Angaben aus Helsinki zu Tausenden, versuchen es mithilfe von Schleppern über die grüne Grenze. Balten und Finnen bauen Zäune. Und an ihrem Ende der Brücke, die die Russen noch immer „Freundscha­ftsbrücke“nennen, haben die Esten drei Reihen Betonpyram­iden montiert. Offenbar schließen sie nicht aus, dass hinter russischen Baukränen Schützenpa­nzer hervorpres­chen.

Man misstraut, fürchtet oder hasst einander. Die kleinen baltischen Ex-Sowjetrepu­bliken haben Angst, dass Putin nach der Ukraine auch mit ihnen abrechnen will, Russland hat die estnische Premiermin­isterin Kaja Kallas zur Fahndung ausgeschri­eben … Und auf dem Rückweg händigt mir ein estnischer Beamter ein Flugblatt aus: „Wenn Estland seine Übergänge wegen des Migrations­drucks zeitweise schließen muss, können Sie über diesen Grenzüberg­ang nicht nach Estland zurück.“

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Fotos: Stefan Scholl Alexander Karjanen und Tatjana Sallier mit Fotos ihrer deutschen Enkelinnen und ihres Enkels in Finnland.
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Foto: AFP Angesichts Tausender „Asylradler“aus Russland machten die Finnen alle neun Grenzüberg­änge dicht.
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Stand mit skandinavi­schen Süssigkeit­en in der Markthalle von Wyborg.
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Bibolet Bejkulow in der Markthalle von Wybor.

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