Der Duft von Zimt
28
„Nein, das ist es nicht. Habt ihr noch die Räder eurer alten Kutsche?“
Louise nickte langsam. Die Achse war schon vor vielen Jahren gebrochen. Und da Madame Laurent das Haus nicht mehr verließ und die Kutsche somit nicht länger gebraucht wurde, hatte Louise sie zu Brennholz verarbeitet, im letzten Winter waren ihre Reste in Flammen aufgegangen. Nur zwei kleine und zwei große Räder, ein paar Schrauben und Metallteile standen noch auf dem Dachboden.
„Was hast du damit vor?“, fragte sie.
Karl legte den Kopf schief. „Ich muss einen Wagen bauen.“
Es war mühsam, die Überreste der Kutsche vom Dachboden hinunter zu schaffen. Außerdem hatte Louise eine Holzsäge entdeckt, die Karl gut gebrauchen konnte. Noch schwieriger war es allerdings, die störrische Philibert in den Stall zurück zuschieben. Als Louise auf den Hinterhof hinaustrat, konnte sie die Kuh gerade noch davon abhalten, herzhaft in Thielemanns Rosenbusch zu beißen. Mit vereinten Kräften schafften Karl und Louise sie zurück in den Holzverschlag, dann rollten sie die zwei kleineren Kutschenräder auf die Straße hinaus.
Schnaufend und ächzend ließen sie den Pferdemarkt links liegen, liefen am Zuchthaus vorbei und steuerten auf das Johanniskloster zu.
An diesem Vormittag herrschte bereits ein reges Treiben in der Stadt. Kinder liefen über den Weg, arbeitslose Tagelöhner saßen träge am Straßenrand und beäugten sie misstrauisch, Ladenbesitzer vertrösteten ihre Kunden, da sie kaum Waren in ihren Regalen hatten. Wo Louise auch hinblickte, glaubte sie, Hunger und Angst in den Gesichtern zu sehen. Sie alle waren auf der Suche, sie alle hofften, dass sich bald endlich etwas ändern würde. Hier und da beobachtete sie, wie sich junge Männer in kleinen Gruppen versammelten und mit gepressten Stimmen aufeinander einredeten. Manchmal wurde heftig genickt, manchmal eine Faust geballt.
„Hee, Sie da!“, rief ein Deutscher in französischer Uniform und eilte in großen Schritten auf sie zu. Louise hielt erschrocken inne und sah dem Mann entgegen.
„Komm weiter“, brummte Karl, rückte den Beutel mit dem Werkzeug auf seinem Rücken zurecht und schob sein Rad ungerührt die Straße hinunter. Schnell folgte sie ihm, und der Soldat musste neben ihnen herlaufen, um mit ihnen sprechen zu können.
„Woher haben Sie die Räder?“, fragte er.
„Es sind meine“, sagte Louise. „Die Kutsche mussten wir im Winter verbrennen, nun sind noch die Räder übrig.“
„Und was haben Sie damit vor?“, forschte er weiter.
„Das geht Sie einen feuchten Kehricht an“, knurrte Karl, ohne ihn anzusehen.
Louise erschrak, und der Soldat trat ihnen entschieden in den Weg, so dass sie stehen bleiben mussten.
„Passen Sie lieber auf. Ich könnte diese Räder jederzeit requirieren“, drohte er.
„Pardon Monsieur. Er … hat es nicht so gemeint“, rief Louise schnell und lächelte den Soldaten gewinnend an. Tatsächlich blieb sein Blick kurz an ihren Lippen hängen, da knurrte Karl:
„Natürlich habe ich es so gemeint.“
Langsam richtete er sich zu seiner vollen Größe auf.
„Wir werden Ihnen nicht sagen, was wir damit vorhaben.
Und Sie erzählen niemandem davon, was Sie gesehen haben.“Dann griff er in seine Hosentasche, zog einen Stoffbeutel hervor und streckte ihn dem Soldaten entgegen. Der Mann riss die Augen auf und sah sich erschrocken um.
„Doch nicht in aller Öffentlichkeit“, zischte er, schnappte sich den Beutel und steckte ihn schnell weg.
„Dachte ich mir“, brummte Karl und rollte sein Rad an dem Soldaten vorbei. Verwirrt folgte Louise ihm.
Sobald sie außer Hörweite waren, flüsterte sie: „Was hast du ihm gegeben? Kanntest du ihn etwa?“
Karl seufzte. „Kaffee. Er ist einer von den Sachsen. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber seine Truppe mit den roten Jacken ist dafür bekannt, sich gern bestechen zu lassen. Die geben nicht einen Pfifferling auf Napoleon und seine Kriege. Wahrscheinlich hassen sie ihn dafür, hier als Soldaten schuften zu müssen. Für arme Kerle wie den hab ich immer etwas Kaffee in der Tasche.“
Er zog einen Mundwinkel hoch und zwinkerte Louise kurz zu. Tief atmete sie durch, um sich von dem Schrecken zu erholen. Dann liefen sie schweigend weiter in Richtung des Klosters. Von hier aus wirkte das mittelalterliche Gebäude, als stünde es auf einer Insel zwischen der kleinen Alster und dem Klosterfleet. Gottesdienste fanden dort nicht mehr statt. Stattdessen drang das Schnauben von Pferden durch die glaslosen Fenster, über das schmutzige Wasser bis an ihr Ohr. Die Franzosen hatten einige Kirchen der Stadt zu Ställen umfunktioniert.
„Was tun wir hier?“, fragte Louise.
Karl deutete nur mit dem Kopf den Weg hinunter. Sie gingen noch ein paar Schritte bis zu einem großen Gebüsch. Dort legte Karl das Werkzeug und die Räder ab.
„Warte hier auf mich“, sagte er. „Und falls jemand kommt …" Er drückte ihr ein kleines Säckchen in die Hand. Dann verschwand er in Richtung Breitengiebel.
Vorsichtig öffnete sie es und hielt die Nase hinein. Der Geruch der gerösteten Kaffeebohnen war so intensiv, schwer und belebend, dass sie vor Freude leise auflachte.
Wie lange hatte sie keinen Kaffee mehr gerochen! In diesen Zeiten war es schon schwer, an Gemüse, Brot und, zumindest hin und wieder, ein Stück Fleisch zu kommen.
An Kaffee war nicht im Entferntesten zu denken. Doch Karl lief mit einer Tüte Bohnen durch die Stadt!
Würde sie sie verkaufen, könnte sie von dem Gegenwert sicherlich einen Tag lang satt werden. Genießerisch atmete sie erneut tief ein.